Zwangsverheiratung ist eine Form von Gewalt, die auch in Deutschland vorkommt. Zwar liegen keine konkreten Zahlen vor, Fachleute gehen jedoch jährlich von einigen tausend Fällen aus. In weit mehr Fällen werden junge Frauen und Männer unter Druck gesetzt, eine bestimmte Person zu heiraten.
Um Zwangsverheiratung wirksam bekämpfen zu können, veranstaltet das Ministerium für Integration, die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die Evangelische Gesellschaft (eva) und das Fraueninformationszentrums FIZ heute einen Fachtag in Hohenheim. über hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich hierzu angemeldet. Nach ersten Fachtagen in den Jahren 2010 und 2013 ist es bereits der dritte zum Thema Zwangsverheiratung.
Antworten erarbeiten
„Zwangsehen sind nur die Spitze des Eisbergs. Schon im Vorfeld einer Zwangsverheiratung werden Frauen und Mädchen in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung eingeschränkt. Dies verstößt gegen die Menschenrechte“, sagte Integrationsministerin Bilkay Öney vorab. Auch gebe es Hinweise darauf, dass in Einzelfällen eine Zwangsverheiratung zwischen Verwandten dazu diene, einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Nur ein Bruchteil der Fälle von Zwangsverheiratung komme zur Anzeige. Deshalb stelle sich die Frage: „Wie können wir die Opfer noch besser schützen?“ Hierzu wollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachtags Antworten erarbeiten.
Vormittags diskutieren die Fachleute über eine Opfergruppe, die bei der Bekämpfung von Zwangsverheiratung bislang oft übersehen wird: Menschen mit Behinderung. Den Hauptvortrag hält Professorin Dr. Swantje Köbsell von der Alice Salomon Hochschule Berlin unter der überschrift: „Behinderte Frauen und Männer mit Migrationshintergrund - (k)eine Zielgruppe im Kampf gegen Zwangsverheiratung?“ Ministerin Öney teilt die Einschätzung der Fachberatungsstellen: „Gerade die jungen Menschen mit Handicap dürfen wir nicht übersehen, wenn wir Maßnahmen gegen Zwangsverheiratung umsetzen. Sie werden leicht zu Opfern, wenn Familien sie unter dem Vorwand ihrer finanziellen Absicherung in ungewollte Ehen drängen.“
Neue Zielgruppen
Der Stuttgarter Rechtsanwalt Jörg Lang erläutert die rechtlichen Aspekte: „Bei praktischen Hilfs- und Schutzmaßnahmen muss beachtet werden, dass auch behinderte Menschen - darunter junge und sogar minderjährige - eigene Grundrechte besitzen. Sie sind zudem auch selbst entscheidungs- und handlungsfähig, soweit sie nach ihrem Entwicklungsstand und ihren Fähigkeiten hierzu in der Lage sind. Ihre Entscheidungen und Wünsche stehen dann grundsätzlich auch nicht unter dem Vorbehalt der Entscheidungen oder Zustimmungen von Einrichtungen, Betreuungspersonen oder Eltern.“
Nachmittags präsentieren sich 16 Projekte, die sich bei der Bekämpfung von Zwangsverheiratung engagieren. Den Abschluss bildet eine zweite Gesprächsrunde, die das Thema „neue Zielgruppen“ beim Kampf gegen Zwangsverheiratung noch weiter fasst – zum Beispiel wenn es um Menschen mit gleichgeschlechtlicher rientierung geht. An der Diskussion nehmen unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Psychologischen Lesben- und Schwulenberatung Rhein-Neckar e. V. (PLUS), vom Präventionsprojekt HEROES, vom Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg e. V. sowie vom DITIB-Bund der Muslimischen Frauen teil.
Weitere Statements
Doris Köhncke, Leiterin des Fraueninformationszentrums FIZ: „In unsere Beratung kommen Frauen aus Afrika und Asien, die vor einer Zwangsehe und Gewalt fliehen und in Deutschland Schutz suchen. Wir müssen weltweit für das Recht von Frauen kämpfen, selbst über ihr Leben bestimmen zu dürfen!“
Yasemin, Beratungsstelle für junge Migrantinnen: „Die Erfahrungen zeigen, dass junge Menschen mit Handicap intensiv beraten und begleitet werden müssen, um vor einer Zwangsverheiratung fliehen zu können. Unerlässlich ist, dass die zuständigen Fachstellen und Behörden bei der Hilfe eng zusammenarbeiten.“
Studie zu Zwangsverheiratung
Eine Studie des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2011 sowie die Nachfrage in entsprechenden Beratungsstellen zeigt, dass in erster Linie Mädchen und junge Frauen von Zwangsverheiratung bedroht sind. Dabei belegen die Erfahrungen der eva-Beratungsstelle „Yasemin“ in Stuttgart, dass das Phänomen Zwangsverheiratung sowie alle damit einhergehenden Formen von Gewalt im Namen der sogenannten Ehre aktueller denn je sind. Im Jahr 2014 wurde in der Stuttgarter Beratungsstelle ein leichter Anstieg der Anfragen festgestellt: Insgesamt wurden 2014 allein bei „Yasemin“ 197 Beratungsfälle betreut; die meisten Betroffenen waren Mädchen und junge Frauen, aber auch vier junge Männer und zwei Paare wurden beraten.
Das Ministerium für Integration fördert die mobile Beratungsstelle Yasemin der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) sowie die nline-Beratungsstelle Sibel. Zur Prävention an Schulen hat das Integrationsministerium gemeinsam mit Terre des Femmes e. V. das Theaterstück „Mein Leben. Meine Familie. Meine Ehre?“ entwickelt, das vor Kurzem ein zweites Mal auf Tournee gegangen ist.
In Zusammenarbeit mit der Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg hat das Ministerium für Fachleute Fortbildungen zum Thema Zwangsverheiratung aufgelegt. Schließlich fördert das Landesforum gegen Zwangsverheiratung unter der Federführung des Integrationsministeriums die Vernetzung von Expertinnen und Experten im Land.
Einen raschen überblick verschafft der Reader „Zwangsverheiratung geht uns alle an! Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention und Intervention“, den die Integrationsministerin vor kurzem gemeinsam mit der Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg veröffentlicht hat. Die darin enthaltenen Hintergrundinformationen zum Thema Zwangsverheiratung und den Fragestellungen der Betroffenen bieten eine schnelle rientierung. Zudem sind die vielfältigen Möglichkeiten der Prävention und Intervention anschaulich beschrieben. Auch Informationen zu Handlungsmöglichkeiten und Kontaktadressen für den Notfall sind enthalten. Gedruckte Exemplare können bei der Aktion Jugendschutz kostenlos bestellt werden.