Frontalunterricht hat in der Nürtinger Neckar-Realschule ausgedient. Stattdessen setzt das Kollegium auf das „kooperative Lernen”. Das Konzept nimmt jeden Schüler in die Verantwortung.
Alissa, Jehona und Enes aus der 9c der Nürtinger Neckar-Realschule brüten über einem Text, der sich mit dem Thema Pubertät auseinandersetzt. Die Teenager lesen die Kurzgeschichte, tauschen sich über Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Leben aus, beantworten Fragen und verfassen schließlich einen persönlichen Brief aus Sicht der pubertierenden Tochter oder ihres Vaters. Einer aus dem Trio muss die Ergebnisse den anderen Kleingruppen präsentieren.
Mit der Methode des kooperativen Lernens will Deutschlehrerin Nicole Larger das Ziel der Unterrichtsstunde erreichen: «dem anderen aufmerksam zuhören». Das Konzept ist nach Ansicht von Kultusminister Andreas Stoch ein weiteres Instrument im Werkzeugkasten der Pädagogen, um den immer unterschiedlicheren Schülern aller Schularten gerecht zu werden. An den Gemeinschaftsschulen im Südwesten ist kooperatives Lernen bereits ein Muss.
Lehrer als Beobachter, Berater und Begleiter
Das gemeinschaftliche Lernen ist das genaue Gegenteil von dem jahrzehntelang vorherrschenden Frontalunterricht an deutschen Schulen. Der Lehrer ist dabei nicht mehr Alleinunterhalter, der sein Wissen über die Schüler ausschüttet. „Wir verstehen uns als Beobachter, Berater und Begleiter der Schüler, die das vorhandene Wissen der Kinder nutzen”, erläutert Lehrerin Anja Baral.
Larger erläutert: „Frontalunterricht bietet die Möglichkeit, sich hinter einem Buch zu verstecken.” Das gelingt beim kooperativen Lernen nicht. Die Schüler können nicht abschalten, weil bei der sehr strukturierten Lernform jedes Gruppenmitglied eine konkrete Aufgabe erhält. Von wegen Hängematte Gruppenarbeit, meint auch Minister Stoch. Ihm habe sogar mal eine vom kooperativen Lernen gestresste Schülerin gestanden: „Manchmal wünschen wir uns den frontalen Unterricht zurück.”
Auch für die Lehrer bedeutet kooperatives Lernen häufig Mehrarbeit, nicht nur wegen der fünftägigen Fortbildung. Die Methode erfordere es, Sinnesreize einzubeziehen wie Bilder oder Musik, und verlängere die Unterrichtsvorbereitung deutlich, erzählt Larger.
Zusammenhalt in der Klasse wird gestärkt
Entwickelt als Lehrer-Weiterbildungsprogramm im kanadischen Schulbezirk Durham nahe Toronto kam das aktivierende und motivierende Lernen Anfang des Jahrtausends auch nach Deutschland. Im Landkreis Esslingen war die Neckar-Realschule 2008 eine von 18 Starterschulen. Derzeit nutzen rund 40 von 180 Schulen im Schulamtsbezirk das Konzept in einem Großteil ihres Unterrichts. Aber auch in anderen Schulen werden Elemente davon verwendet, berichtet Schulamtsdirektor Günter Klein. Seine Behörde verbreitet das Konzept durch Qualifizierung der Lehrer oder Unterrichtsbesuche durch Trainer.
Die Schüler schätzen die Methode sehr. Die 16-jährige Jehona findet gut, dass der Zusammenhalt in der Klasse gestärkt wird. Man könne sich auch gegenseitig Dinge erklären, die der Lehrer nicht so gut rüberbringt. Ihr Klassenkamerad Enes meint: „Das macht mehr Spaß und bleibt besser im Kopf.” Maike aus der zehnten Klasse hat erlebt, dass der Notendurchschnitt besser ausfällt.
Gut fürs Selbstbewusstsein
Zudem kommt den Schülern das kooperative Lernen bei den Gruppen-Präsentationsprüfungen zur Mittleren Reife zugute. Internationale Studien bescheinigen der Methode, fachliche und soziale Kompetenzen der Schüler besonders gut zu fördern. Pädagogin Larger hat in ihren Klassen beobachtet: „Die Schüler haben ein stärkeres Selbstbewusstsein.”
Quelle:
dpa/lsw