Sicherheit

Verfassungsschutzbericht 2011 vorgestellt

„Der baden-württembergische Verfassungsschutz sieht sich bei der Beobachtung der vielfältigen extremistischen und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen aktuell besonders durch Rechtsextremisten und Islamisten herausgefordert.“ Dies sagte Innenminister Gall am Freitag, 11. Mai 2012, bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2011 in Stuttgart, an der auch die Präsidentin des Landesamtes Beate Bube mitwirkte.

Salafistische Szene auch in Baden-Württemberg

Aktuell wegen der Messerattacken gegen die Polizei in Bonn und mehrerer Kundgebungen sind die Salafisten ins Blickfeld gerückt. Vor wenigen Wochen hatten Aktivisten in verschiedenen Städten Baden-Württembergs an Infoständen deutschsprachige Koranausgaben verschenkt. Salafisten sehen sich als wahre Muslime in der Nachfolge der Prophetengefährten. Diese stark gewachsene Bewegung zeichne sich vor allem durch eine Vielfalt an öffentlichen – teilweise bewusst provokativen – Propagandaaktivitäten aus, erklärte Minister Gall, mit denen sie für ihre vermeintlich buchstabengetreue Interpretation islamischer Quellen werben.

Die etwa 500 Anhänger in Baden-Württemberg betätigten sich in der islamischen Mission (Da’wa). Sie richteten sich dabei nicht nur an Nicht-Muslime, sondern auch an Personen mit islamischem Hintergrund. Sie verbreiteten die Auffassung, dass den frühen islamischen Quellentexten Vorschriften und Gesetze entnommen werden können, die für die gesamte Menschheit Gültigkeit beanspruchen. Diese Sicht gehe mit einer Abwertung abweichender Ansichten und mit der Ablehnung demokratisch legitimierter Gesetze einher. Vor allem hierin liege die Verfassungsfeindlichkeit dieser Aktivitäten und damit der Grund für die Beobachtung dieser Personengruppen.

Fast alle Personen mit Deutschlandbezug, die den gewaltsamen Jihad befürworten oder sich ihm sogar angeschlossen haben, hätten zuvor mit Trägern salafistischer Bestrebungen in Kontakt gestanden. Der Salafismus gelte daher als ein Nährboden des islamistischen Terrorismus.

Terrorgefahr durch Radikalisierung im Internet

Am 2. März 2011 sei es zum ersten islamistisch motivierten Anschlag mit Todesopfern in Deutschland gekommen. Am Flughafen in Frankfurt am Main habe ein junger Mann zwei US-Soldaten erschossen und zwei weitere schwer verletzt. Dieser Anschlag verdeutliche die Gefahr, die von Einzeltätern ausgehen könne: Die sogenannten „lone wolves“ radikalisierten sich vor allem in virtuellen Netzwerken und durch deren Inhalte. Wie brisant dieser Täterkreis sei und welche Risiken von ihm ausgehe, zeigten auch die Morde eines Islamisten in Toulouse/Frankreich im März 2011, bei denen sieben Menschen erschossen wurden. Der mutmaßliche Täter soll ebenfalls kein Mitglied einer festen Struktur oder Zelle gewesen sein. Diese beiden und viele weitere ähnliche Täter würden in jihadistischen Internet-Foren als Helden gefeiert und als Vorbilder dargestellt.

Im deutschsprachigen Netz habe sich in den letzten Jahren eine problematische Ansammlung von salafistischen und islamistischen Webseiten, Weblogs, Facebook-Auftritten und YouTube-Kanälen etabliert. Sie hätten in vielen Bereichen eine virtuelle Deutungshoheit über islamische Themen übernommen. Innenminister Gall warnte: „Unreflektiert konsumiert sind derartige Angebote der Nährboden für eine Radikalisierung mit möglicherweise tödlichen Folgen. Diese Form der Radikalisierung stellt die Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen.“

Prävention im Bereich des islamistischen Extremismus

Mit Fragen zum Umgang mit islamistischen Einstellungen befasse sich das Landesamt für Verfassungsschutz in enger Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung. Seit 2010 würden die beiden Institutionen das Präventionsprojekt „Team meX – Mit Zivilcourage gegen islamistischen Extremismus“ betreiben. Dieses Projekt setze 2012 seine erfolgreiche Arbeit mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der schulischen und außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit fort und solle perspektivisch um Angebote für Jugendliche erweitert werden.

Gewaltbereiter Rechtsextremismus neu bewertet

Die Aufdeckung der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds im November 2011 habe zu einer veränderten Einschätzung des rechtsextremistischen und gewaltbereiten Lagers geführt. Eine derartige terroristische Vorgehensweise habe sich im Bereich der rechtsextremistischen politisch motivierten Kriminalität bis dato nicht gezeigt. Die Sicherheitsbehörden gingen jetzt von einer erhöhten Gefährdungslage durch gewaltbereite Rechtsextremisten aus. Gall: „Mich besorgt nach wie vor, dass es diesem Neonazi-Trio gelungen ist, unterzutauchen und jahrelang unentdeckt zu bleiben. Es kommt jetzt darauf an, ihre Taten voll aufzuklären und in Bund und Ländern gegebenenfalls personell-organisatorische Konsequenzen zu ziehen.“

DasLandesamt für Verfassungsschutzhabe mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert. Dies umfasse die Kooperation und den Informationsaustausch mit anderen Behörden auf Bundes- und Landesebene sowie Maßnahmen in der nachrichtendienstlichen Informationsgewinnung. Ein besonderer Beobachtungsschwerpunkt des Landesamts für Verfassungsschutz seien die gewaltbereiten Rechtsextremisten. Dieser Szene hätten 2011 circa 690 Personen angehört, etwa 20 mehr als im Vorjahr. Diese Zahl setze sich im Wesentlichen aus den rechtsextremistischen Skinheads (circa 450 Personen) und den „Autonomen Nationalisten“ (circa 190 Personen) zusammen. Im Jahresverlauf 2011 seien im Land 35 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten registriert worden, ein leichter Rückgang gegenüber 39 im Jahr 2010. Die Gesamtzahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten sei jedoch von 917 auf 988 gestiegen.

Ein erschreckendes Beispiel für eine rechtsextremistisch motivierte Gewalttat war in der Nacht vom 9. auf den 10. April 2011 in Winterbach/Rems-Murr-Kreis zu beklagen, als Rechtsextremisten eine Gartenhütte in Brand setzten, in der sich eine Gruppe junger Menschen mit Migrationshintergrund aufgehalten hatten. Am 26. März 2012 habe das Landgericht Stuttgart zwei tatbeteiligte Rechtsextremisten wegen schwerer Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die Urteile seien noch nicht rechtskräftig.

Rechtsextremistisches Personenpotenzial rückläufig 

Das rechtsextremistische Personenpotenzial in 2011 umfasse in Baden-Württemberg nurmehr circa 2.000 Personen. Damit habe sich ihre Anzahl seit 2010 (2.200 Personen) abermals verringert; insgesamt sei sie seit 1993 um über 70 Prozent zurückgegangen. Das einzige Segment des Rechtsextremismus, das seit Jahren in Bund und Ländern kontinuierlich wachse, sei die Neonaziszene. In Baden-Württemberg seien ihr für 2011 etwa 510 Personen zuzurechnen (2010: circa 470). Das Wachstum gehe vor allem auf die „Autonomen Nationalisten“ (AN) zurück, der im Land etwa 190 Personen angehörten. Ihre Gruppierungen seien meist regional organisiert, landesweit gebe es etwa ein Dutzend solcher Zusammenschlüsse.

Entgegen ihrem äußeren Erscheinungsbild, das sich an „linken“ bis linksextremistischen Vorbildern orientiere, handele es sich bei den AN um Rechtsextremisten, die verbal aggressiv neonazistische Positionen vertreten und sich revolutionär gebärdeten. Hinzu komme häufig militantes Verhalten. Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit von AN hätten sich bei rechtsextremistischen Demonstrationen in der Vergangenheit immer wieder gegen Polizeibeamte und – insbesondere linksextremistische – Gegendemonstranten gerichtet.

Durch ihren Aktionismus und ihre Präsenz in der Öffentlichkeit und den Medien sei es den AN in den vergangenen Jahren gelungen, sich in der Neonaziszene zu etablieren. „Die weitere Entwicklung dieser Szene mit ihren jungen, fanatischen und gewaltbereiten Anhängern muss darum auch in Zukunft genau beobachtet werden“, betonte Innenminister Gall.

Deutlich mehr Demonstrationen der rechtsextremistischen Szene

Im Jahr 2011 sei ein deutlicher Anstieg rechtsextremistischer Demonstrationen auf 13 gegenüber fünf im Jahr 2010 festgestellt worden. Diese Entwicklung ginge komplett auf das Konto von Demonstrationen mit neonazistischem Bezug. Die größte Demonstration sei mit 750 Personen am 1. Mai 2011 in Heilbronn gelaufen. Gall: „Diese neonazistische Großdemonstration sowie die damit zusammenhängende Kampagne ist ein eindrückliches Beispiel für den Schulterschluss der NPD bzw. ihrer Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten (JN) mit der Neonaziszene.“

Neue Aktions- und Agitationsform: „Die Unsterblichen“

2011 sei auch Baden-Württemberg Schauplatz von Aktionen der Kampagne „Die Unsterblichen“ gewesen. Dahinter verberge sich keine konkrete rechtsextremistische Organisation, sondern eine neue Agitations- und Aktionsform innerhalb der rechtsextremistischen Szene.

Die möglichst einheitliche Kostümierung der Aktionsteilnehmer – weiße Masken und Handschuhe, schwarze Kleidung – diene nicht nur als eine Art Markenzeichen, sondern solle auch einen Schutz vor möglicher Strafverfolgung bieten. Damit sei die Kampagne darauf angelegt, Personen anzusprechen, die mit rechtsextremistischem Gedankengut sympathisieren, aber nicht offen auf entsprechenden Veranstaltungen auftreten, gesehen oder erkannt werden wollen. Gall: „Die Kampagne zielt darauf ab, Hemmschwellen gegenüber der Teilnahme an rechtsextremistischen Demonstrationen zu senken. Eine verstärkte Beobachtung ist daher unerlässlich.“

NPD stagniert weiterhin

Die Mitgliederzahl der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) in Baden-Württemberg stagniere seit Jahren bei circa 460. Im Land sei die NPD die bedeutendste und mitgliederstärkste rechtsextremistische Vereinigung und übe seit Jahren einen spürbaren Einfluss auf weite Teile der rechtsextremistischen Szene aus. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl am 27. März 2011 konnte die NPD aber lediglich 0,97 Prozent der Wählerstimmen gewinnen.

Die Mitgliederzahl der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) sei in Baden-Württemberg von 110 im Jahr 2010 auf 90 im Jahr 2011 gesunken. Dennoch sei es der JN mit landesweit zwölf „Stützpunkten“ gelungen, eine relativ stabile Organisationsstruktur zu etablieren.

Schrumpfung der rechtsextremistischen Skinheadszene hält an

Die personelle Schrumpfung der rechtsextremistischen Skinheadszene, die bereits mehrere Jahre andauere, habe sich auch 2011 fortgesetzt: Ihre Anhängerzahl sei von landesweit 480 im Jahr 2010 auf rund 450 gesunken. 2011 seien in Baden-Württemberg elf Skinheadbands aktiv gewesen, was etwa dem Vorjahresniveau entspricht. Von 17 auf elf deutlich zurückgegangen sei auch die Anzahl rechtsextremistischer Skinheadkonzerte. Dies sei im Wesentlichen auf den Wegfall einer Veranstaltungslokalität in Rheinmünster-Söllingen/Kreis Rastatt zurückzuführen.

Mehr gewaltorientierte Linksextremisten und Gewalttaten

Die Zahl gewaltorientierter Linksextremisten in Baden-Württemberg sei im Jahresverlauf 2011 erstmals seit Jahren wieder von 590 auf 680 Personen angestiegen. Dies sei auf vermehrte Aktivitäten und Gruppenbildungen, vor allem in Freiburg und im Bodenseeraum zurückzuführen.

Linksextremistische Gewalt sei auch 2011 in erster Linie von den sogenannten Autonomen ausgegangen. Sie betrachteten die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel. Auch staatliches Handeln treffe zunehmend auf gewaltsamen Widerstand.

Ein deutlicher Anstieg um 14 auf 88 Fälle sei bei linksextremistischen Gewalttaten zu verzeichnen gewesen. Ursächlich hierfür sei vor allem eine Häufung schwerer Gewalttaten in Freiburg. Dort sei es zu mehreren Brandanschlägen auf Dienstfahrzeuge der Polizei gekommen. Wie aus mehreren Bekennerschreiben hervorging, waren diese Gewalttaten eine Reaktion auf „staatliche Repression“ gegen die Szene.

Weitere Gewalttaten habe die Räumung der Wagenburg „Kommando Rhino“ Anfang August 2011 ausgelöst. Es sei zu gewalttätigen Ausschreitungen, zur Errichtung brennender Barrikaden und zum Anzünden von Baufahrzeugen gekommen.

Auch der Kampf um „selbstbestimmte Freiräume“ wurde von gewaltsamen Aktionen begleitet. In der Nacht auf den 17. Juli 2011 kam es zu Sachbeschädigungen an der Akademie der Polizei in Freiburg und zu einer sogenannten Entglasungsaktion am Verwaltungsgebäude der Freiburger Stadtbau GmbH.

Beim Vorgehen der Linksextremisten seien bereits seit längerem eine sinkende Hemmschwelle und zunehmende Brutalität festzustellen. Gerade bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner von „rechts“ richte sich Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen – tatsächlich oder vermeintlich – rechtsextremistische Personen.

Innenminister Gall machte deutlich: „Gewalt gegen Sachen oder Personen wird nicht toleriert. Dies gilt für alle Formen des Extremismus.“

Quelle:

Innenministerium Baden-Württemberg

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