Interview

„Wir haben in Deutschland eine gesegnete Medienlandschaft“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview (Bild: © picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa)

Im Interview mit der Badischen Zeitung spricht Ministerpräsident Kretschmann über die Medienlandschaft in Baden-Württemberg und wie sich die Berichterstattung aus seiner Sicht in den vergangenen Jahren verändert hat.

Badische Zeitung: Herr Ministerpräsident, die Badische Zeitung feiert ihr 75-jähriges Bestehen. Sie haben mehr als die Hälfte dieser Zeit als aktiver Politiker verbracht. Wie haben Sie die Entwicklung des Journalismus in den vergangenen Jahrzehnten erlebt?

Winfried Kretschmann: Die neuen Medien haben das Ganze dramatisch verändert. Das hat verschiedene Komponenten. Die Forderung nach Echtzeit macht es natürlich einerseits aktueller. Aber daraus ist auch ein Echtzeit-Wahn entstanden. Gute Berichterstattung setzt auch gute Recherche voraus. Dass man die Informationen und Behauptungen, die da herumgeistern, auf Echtheit und Fakten kontrolliert, auch auf Bezüge und Zusammenhänge. Das macht ja eine gute Zeitung aus, dass sie einordnet und ich mich darauf verlassen kann, das stimmt, was da steht.

Spüren Sie solche Veränderungen auch beim Regieren?

Kretschmann: Wie der Wahn, der Allerschnellste zu sein, ausarten kann, haben wir in der Corona-Krise bei der Ministerpräsidentenkonferenz erlebt. Dass praktisch alles durchgestochen wird, sozusagen in Echtzeit ein Smartphone offenbar die Verbindung zu einer Zeitung mit den großen Buchstaben gehalten hat – das hat die Konferenz an den Rand der Entscheidungsfähigkeit gebracht. Da beeinflusst das auf ungute Weise ganz wichtige Entscheidungen. Denn wer kann unter solchen Umständen noch etwas Unfertiges oder auch mal etwas Gewagtes sagen? Das hat dazu geführt, dass die Sitzungen dann schlecht und sehr kurzfristig vorbereitet wurden. Und beim Thema Osterruhe ist daraus dann ein Debakel entstanden.

Was beobachten Sie sonst noch?

Kretschmann: Die Trends Boulevardisierung, Skandalisierung haben zugenommen. Aber da haben wir in Deutschland eine gesegnete Medienlandschaft, in der unsere Zeitungen immer noch einen sehr, sehr hohen Qualitätsstandard aufweisen. Gerade in Baden-Württemberg haben wir gute Regionalzeitungen, die das Regionale und Lokale breit abdecken. Wo findet man im Internet wirklich lokal durchgecheckte Dinge? Das ist ein hohes Gut.

Die Menschen in Deutschland bezahlen Pflichtabgaben für öffentlich-rechtliche Medien. Wie sehen Sie die Rolle unabhängiger Regionalzeitungen?

Kretschmann: Eine Zeitung ist etwas ganz anderes. Der Überblick, das Blättern, das Überschlagen. Ich kann etwas noch einmal nachlesen. Im Fernsehen läuft es eben ab, und dann macht man sich normalerweise nicht die Mühe, das in der Mediathek noch mal zurückzuspulen. Wenn sie gut ist, bedeutet Zeitung Informationstiefe. Darin ist eine Zeitung durch nichts zu überbieten. Das macht Printmedien aus.

Andere Ministerpräsidenten beneiden mich

Haben Sie Referenten, die Ihnen alles zusammenfassen? Lesen Sie zu Hause trotzdem noch selbst?

Kretschmann: Ich habe zu Hause zwei Tageszeitungen, lese eine Sonntagszeitung und habe eine Wochenzeitung abonniert. Dann bekomme ich jeden Tag einen Pressespiegel, den ich, wenn ich genügend Zeit habe, auch selbst durchblättere. Sonst bekomme ich täglich strikt eine Viertelstunde vorgetragen, was die Landespresse zur Landespolitik sagt. Und natürlich schaue ich wichtige überregionale Zeitungen durch. Aber ich stehe unter enormem Zeitdruck und finde immer, dass ich zu wenig Zeitung lese. Obwohl es wahrscheinlich verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung viel ist.

Weshalb ist das für Sie so wichtig?

Kretschmann: Es hilft in der Regierungsarbeit, zu wissen, welche Themen die Menschen im Land umtreiben, was vor Ort diskutiert wird. Die lokale Berichterstattung der Regionalzeitungen im Land ist schon ein unglaubliches Pfund für eine Regierung. Auch die Badische Zeitung ist ja ganz stark auf ihre Region zugeschnitten. Vieles aus der Fläche würden wir sonst nie erfahren.

BZ: Was verbinden Sie mit der BZ?

Kretschmann: Die Badische Zeitung ist ein Ausdruck für den Charme Baden-Württembergs. Wir haben nicht ein Zentrum, sondern viele. In der BZ kommt zum Ausdruck: Südbaden ist eine selbstbewusste Region, und der kann nichts Besseres passieren, als die BZ zu haben, die das transportiert, die darüber berichtet, die das lebendig macht. Das ist ihre Stärke, dass sie das sehr stringent tut, aus der Verwurzelung in der Region heraus, aber mit dem Horizont darüber hinaus. Viele andere Ministerpräsidenten beneiden mich, dass wir noch eine so vielfältige regionale Presselandschaft haben. Ich mache mir Sorgen, wenn die durch das Internet, Anzeigenrückgänge oder auch die Pandemie immer weiter unter Druck gerät. Wie eine Demokratie ohne Zeitungen funktionieren soll, ist mir völlig schleierhaft. Schlecht! Da muss man nur über den Teich in die USA gucken.

Die Wertschätzung der freien Presse müssen wir immer wieder lebendig halten

Wie meinen Sie das?

Kretschmann: Regionale Qualitätszeitungen fehlen dort fast völlig. Es gibt ein berühmtes Zitat von Thomas Jefferson: „Wenn ich zu wählen hätte zwischen einem Land mit einer Regierung, aber ohne Zeitung, und einem Land mit Zeitung, aber ohne Regierung, dann würde ich mich für das Land ohne Regierung entscheiden.“ Das hätte sich Ex-Präsident Donald Trump mal merken können. Pressefreiheit ist demokratisch gesehen das Grundrecht schlechthin. Seine Meinung frei sagen zu können, das ist so etwas Elementares für eine Demokratie, das ist eigentlich ihr Kern. Rechtspopulisten und autoritäre Diktaturen fangen immer als Erstes an, diesen Bereich einzuschränken. Das Wort von der angeblichen „Lügenpresse“ und Angriffe auf Journalisten haben dazu beigetragen, dass Deutschland in der internationalen Rangliste der Pressefreiheit abgesunken ist. Das zeigt: Die Wertschätzung der freien Presse müssen wir immer wieder lebendig halten.

2019 haben Sie bei einem medienpolitischen Kongress der Landesregierung gesagt, Sie wollten helfen und Kräfte bündeln, um die Demokratie zu stärken. Was kann eine Regierung tun?

Kretschmann: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss staatsfern sein. Die Zeitungen sind ohnehin privatwirtschaftlich organisiert. Wir können Medienkompetenz im Unterricht fördern. Die Aufgabe wird immer drängender, Kinder dazu zu bringen, dass sie Fake News erkennen können, in der Informationsflut Urteilskraft ausbilden. Im Internetzeitalter geht das nicht, ohne Junge auch an den Wert einer Zeitung heranzuführen.

Sie wurden als Oppositionspolitiker wie als Regierungschef medial begleitet. Hat das einen Unterschied für die Frage gemacht, ob Sie sich im Großen und Ganzen fair behandelt fühlen?

Kretschmann: Das hat sich nicht grundlegend gewandelt. Wir werden fair behandelt. Was ich allerdings nach zehn Jahren Regierung jetzt anders sehe: eine starke Fehlerorientierung. Die Medien springen auf den kleinsten Fehler an, und aus meiner Sicht blasen sie ihn auch oft auf. Dadurch entsteht dann manchmal der Eindruck, dass wir eigentlich hauptsächlich Fehler machen. Ich glaube, das ist ein Problem, vor allem in Zeiten des Rechtspopulismus, wo Institutionen gänzlich in Frage gestellt werden. In der Opposition freut man sich natürlich über jeden Fehler, den die Presse kritisiert. In der Exekutive denkt man oft: Hallo, wir machen doch auch Dinge, die nun offenkundig wichtig, notwendig und auch richtig sind. Und die sind sozusagen die Selbstverständlichkeiten, über die weniger berichtet wird.

Die Fragen stellte Jens Schmitz

Quelle:

Das Interview erschien am 14. Juli 2021 in der Badischen Zeitung
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