Interview

„Was hält die moderne Gesellschaft zusammen – diese Frage treibt mich um“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview (Foto: dpa)

Im Interview mit dem Staatsanzeiger spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über den Weg in die Bürgergesellschaft, die Sanierung des Haushalts und Verzeihen in der Politik.

Staatsanzeiger: Die ergebnisoffene Suche nach einem Atommüllendlager ist beschlossen. Ist das Ihr bisher größter Erfolg?

Winfried Kretschmann: Ja, das ist auf Bundesebene mein größter Erfolg. Das habe ich federführend gemeinsam mit dem damaligen Umweltminister Norbert Röttgen eingeleitet. Es war sehr, sehr schwer, diese Kompromisssuche auch über Landtagswahlen hinweg offen zu halten, und der Prozess stand oft auf Messers Schneide. Oft genug habe ich gedacht, jetzt ist es aus. Dass wir doch zum Schluss zwischen allen Bundesländern, Regierung und Opposition, allen Parteien und Fraktionen – außer den Linken – diesen nationalen Konsens hinbekommen haben, darüber freue ich mich dann wirklich. Es geht immerhin um nicht mehr oder weniger als die schwierigste Infrastrukturentscheidung, die in der Bundesrepublik jemals zu fällen sein wird.

Ihre Erfolge haben Sie in einem Alter errungen, in dem andere bereits in Rente gehen. Oft wird Ihr Alter thematisiert. Nervt Sie das?

Kretschmann: Nein, im Gegenteil. Ich stelle fest, ich habe diesen Jugendkult beendet, denn jetzt sprechen nicht mehr alle über das Alter. Alter ist ja eine ontologische und keine politische Kategorie. Jetzt wird wieder darauf geachtet, wer was wie macht, es wird auch wieder mehr die Erfahrung geschätzt, insofern bin ich einverstanden.

Vor Kurzem haben Sie Ihren Vorvorgänger Oettinger korrigiert, als er sich zur Frage der Endlagerung von Atommüll zu Wort meldete. Hat er Ihnen eigentlich auch einen nützlichen Tipp für die Arbeit gegeben? Oder ein anderer Ex-Ministerpräsident?

Kretschmann: Von Oettinger und Teufel habe ich nützliche Tipps bekommen. Oettinger etwa hatte mir geraten, bei Auslandsreisen mehrmals in das gleiche Land zu fahren. Er sagte: Beim ersten Mal bist Du Tourist, beim zweiten Mal wirst Du ernst genommen. So könne man Auslandsbeziehungen nachhaltig gestalten. Das war ein sehr konkreter, ganz wichtiger Ratschlag.

Sie tragen dieselben bequemen Schuhe wie vor Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten. Inwieweit kann man in so einem Amt man selber bleiben?

Kretschmann: Genau, am Beispiel der Schuhe können Sie erkennen, dass es eben nicht so einfach ist. Zu vielen vornehmen Anlässen wechsle ich die Schuhe und zwänge mich in schickeres, wenn auch für meine Füße gefängnisähnliches Schuhwerk. Ich kann ja schlecht auf einen Staatsempfang mit meinen Gesundheitslatschen gehen. Da fühlt sich mancher vielleicht provoziert, und das will ich nicht. Ich trage die Schuhe ja aus Bequemlichkeit und will niemandem gegenüber Geringschätzung demonstrieren.

Sie sind als Ministerpräsident bei der Bevölkerung sehr beliebt. Woran messen Sie selbst Ihren Erfolg?

Kretschmann: Erfolg misst sich an vielen Punkten. Zwei will ich nennen. Zum einen, dass man konkrete Vorhaben umgesetzt bekommt: Die Energiewende, den Bildungserfolg von der Herkunft zu entkoppeln, den Haushalt zu sanieren. Das sind konkrete Vorhaben. Der Haushalt etwa ist zwar das schwierigste Problem, aber auch am einfachsten überprüfbar: Da gibt es Zahlen.
Daneben gibt es grundlegende Fragen, etwa den Zusammenhalt der Gesellschaft. Meine Politik des Gehörtwerdens, einen Schritt in die Bürgergesellschaft zu machen, ist schwer messbar, mir aber genauso wichtig. Was hält die moderne Gesellschaft zusammen – eine Gesellschaft, die sich individualisiert, in der Bindungskräfte wie etwa die Religion nachlassen? Diese Frage treibt mich wirklich um.

Und wie lautet Ihre Antwort darauf?

Kretschmann: Dass wir die Bürgerschaft stärker partizipieren lassen an der Politik, also die Möglichkeiten der Menschen stärken, durch direkte Demokratie selber mitzuentscheiden und sich an politischen Entscheidungen auf Augenhöhe zu beteiligen. Entscheiden tun aber letztendlich immer die verfassungsgemäß vorgesehenen Organe – wie Parlamente, Gemeinderäte oder auch, wo es vorgesehen ist, Bürgerentscheide und Volksabstimmungen. Oft spürt man, dass es für die Minderheit schwierig ist, sich mit Mehrheitsentscheidungen abzufinden. Stuttgart 21 etwa ist ein gutes Beispiel dafür. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben damit zu kämpfen, als Verräter beschimpft zu werden. Das sind die Extremausschläge, die daher kommen, dass sich ein harter Kern schwer damit tut, zu akzeptieren, dass ein Ministerpräsident, der an Recht und Gesetz gebunden ist, solche Entscheidungen mittragen muss – unabhängig davon, ob sie ihm persönlich gefallen oder nicht.

Was war Ihre größte Enttäuschung als Ministerpräsident?

Kretschmann: Wirklich große Enttäuschungen musste ich Gott sei Dank noch nicht erleben. Am meisten überrascht hat mich, dass alles so lange dauert. Wir sehen das beispielsweise an der Windkraft, einem sehr ambitionierten Projekt unserer Landesregierung. Es sind zwei Jahre vergangen, und wir sind immer noch nicht fertig. Da merkt man, dass man in einem Rechtsstaat lebt. Wenn man Bürger beteiligt, ist das oft ein langwieriger Prozess. Gleiches gilt für die Abstimmung zwischen den Ressorts. Es dauert schon alles sehr, sehr lange.
In der Opposition denkt man, die wollen nicht schneller. Wenn man selber regiert, spürt man: Vieles liegt an den Abstimmungsstrukturen in der Regierung und gegenüber der Gesellschaft, Interessenverbänden, Anhörungspflichtigen. Das Geschäft ist zäher und der Wust an rechtlichen Vorhaben größer, als man denkt. Ich bin manchmal erstaunt darüber, was ich alles gar nicht kann, weil einen EU-Vorgaben oder Ähnliches einhegen.

Sie vermitteln gelegentlich den Eindruck, in wichtigen Fragen und Entscheidungen nachzugeben. Ist das tatsächlich bloß den Zwängen der Koalition geschuldet?

Kretschmann: Ich setze mich in vielen Dingen durch, machen Sie sich da keine Sorgen. Aber ich regiere ja nicht allein, sondern in einer Koalition. Dazu kommt, dass man sich oft mit dem Bund abstimmen muss, weil es viele Mischzuständigkeiten gibt. Man muss Kompromisse machen.
Bundeskanzlerin Merkel ist in dieser Hinsicht schlauer. Sie hält erst, wie Peer Steinbrück gesagt hat, den Finger in die Luft – nicht um die Richtung anzuzeigen, sondern um zu testen, woher der Wind weht. Ich gehe auch mal voran, manchmal eben auch ein Stück zu weit, und bekomme dann das Maximum nicht durch. Manches unterschätzt man auch. Beim Thema Alkoholmissbrauch etwa, als es darum ging, Kommunen begrenzte Alkoholverbote zu ermöglichen, wurde ich gebremst. Doch bei zentralen Themen passiert das sehr selten, deshalb habe ich kein Grund zur Beschwerde.

Beim Nationalpark ist die Region gespalten. Das Gutachten spricht dafür. Bürgerbefragungen dagegen. Wie weit kann die Politik des Gehörtwerdens gehen?

Kretschmann: In welchen Fragen herrscht schon Konsens? Das gibt es sehr selten. Das ist aber kein Ausweis dafür, dass die Politik des Gehörtwerdens gescheitert ist. Das wäre ein großes Missverständnis. Es heißt, dass man nicht übergangen wird. Aber entscheiden werden die dafür vorgesehenen Organe. Das ist im Nationalpark der Landtag. Ein regionales Veto dagegen ist gar nicht möglich. Selbst wenn das Thema direktdemokratisch entschieden würde – was ich sogar begrüßen würde –, müssten die Gegner einen landesweiten Volksentscheid anstreben. Lokale Umfragen sind in so einem Fall nicht aussagekräftig, denn sie erwecken den Eindruck, als gäbe es ein lokales Veto gegen eine Frage von nationaler Bedeutung. Das Vorhaben heißt nicht umsonst Nationalpark. Die Politik des Gehörtwerdens muss in der Sache keineswegs unseren Vorstellungen folgen. Nehmen Sie Stuttgart 21. Wir waren überzeugt davon, den Volksentscheid zu gewinnen und haben verloren. Für uns gilt eben nicht: Nur wenn man recht bekommt, ist direkte Demokratie auch gut.

Von der Schweiz lernen, heißt Bürgerbeteiligung lernen. Wie lange wird das in Baden-Württemberg dauern?

Kretschmann: Wir brauchen die Opposition, weil die Verfassung geändert werden muss. Wir sind aber auf dem Weg, Kompromisse zu finden, was ich so von den Verhandlungen zwischen den Landtagsfraktionen mitbekomme. Das ist vielleicht das Gute im Schlechten: Der Volksentscheid zu Stuttgart hat ja gezeigt, dass die Bevölkerung auch Dinge befürwortet, die auf der Agenda der Opposition stehen. Ich hoffe, dass die CDU ihre Angst verloren hat, so dass wir uns langsam an bayerisches Niveau heranrobben können. Auf dem Gebiet der direkten Demokratie sind die Bayern in Deutschland absolut führend, darum beneiden wir sie wirklich.

Als Bundesratspräsident wollten Sie die Interessen der Länder stärker in den Vordergrund rücken. Ist Ihnen das geglückt?

Kretschmann: Mit meinen Anliegen, die Verfahrensabläufe transparenter zu gestalten, bin ich noch nicht so weit gekommen wie erhofft.
Für mich ist es ein besonderes Anliegen, den föderalen Gedanken zu stärken. Ich glaube, das ist den Ländern auch ganz gut gelungen Dass sich unsere föderalen Strukturen auch in Krisensituationen bewähren, in denen schnell reagiert werden muss, hat der Bundesrat mit seiner Sondersitzung zur Hochwasserhilfe am 26. Juni 2013 bewiesen. Daneben war und ist es ein besonderes Anliegen für mich, die Abläufe im Bundesrat transparenter und nachvollziehbarer zu gestalten. Hier sind wir ein gutes Stück vorangekommen – wenn ich im Jahr meiner Präsidentschaft auch nicht so weit vorangekommen bin, wie ich es mir erhofft hatte. Voraussichtlich ab September werden die Plenarsitzungen live auf der Homepage des Bundesrates übertragen. Außerdem stehen an den Bänken jetzt die Namen der Länder, so weiß man als Zuschauer wenigstens, wer da für welches Land die Hand hebt. Ein weiterer Schritt zu mehr Transparenz ist der Ausbau im Onlinebereich: So wird der Bundesrat beispielsweise verstärkt neue Medien wie Twitter oder Youtube nutzen, um über seine Arbeit zu berichten. Die Bürger haben damit die Möglichkeit, sich auf noch einfachere und unkompliziertere Weise über die Geschehnisse im Bundesrat zu informieren. Ich denke, dass wir damit auch junge Menschen erreichen können.

Schon heute sind 25 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst 55 Jahre und älter. In ein paar Jahren könnten komplette Abteilungen geschlossen werden, wenn heute nicht gegengesteuert wird. Nachwuchs tut Not, die Stimmung ist schlecht. Ist es da nicht kontraproduktiv, wenn die Eingangsbesoldung der Beamten um vier Prozent gesenkt wird?

Kretschmann: Die Einstiegsgehälter sind nicht das Problem. Nach drei Jahren steigt das Gehalt ja an. Wirkliche Probleme gibt es etwa bei den jungen, noch nicht fest angestellten Lehrern, die in den Sommerferien nicht bezahlt werden. Oder bei jungen Absolventen, die Praktikumsrunden ohne Ende leisten müssen. Die Zunahme ungesicherter bis hin zu prekären Beschäftigungsverhältnissen erschwert die Familiengründung.
Das Problem liegt nicht darin, dass man jetzt als Beamter am Anfang eine Gehaltsstufe niedriger eingestuft wird. Niemand macht das gerne, aber irgendwie müssen wir auch am Personalkörper etwas machen. Man kann am Personal vorbei nicht den Haushalt sanieren, das geht einfach nicht. Das sind weit über 40 Prozent des Haushalts.

Sie sagen, der Haushalt kann nicht an den Beamten vorbei saniert werden. Doch was wollen sie tun, damit nicht so viel Frust bei den Beamten entsteht?

Kretschmann: Ich kann letztlich nur an ihre Vernunft und Voraussicht appellieren. Wir müssen ja auch an die Beamten der Zukunft denken. Pensionen und Renten laufen immer weiter auseinander. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. Wir können nicht solange warten, bis wir richtig brutale Einschnitte machen müssen, weil es anders gar nicht mehr geht.
Wir müssen nachhaltig und auch langfristig denken. Wir wollen ja auch noch Beamte einstellen und bezahlen können, wenn die Schuldenbremse greift. Ich muss die Pensionen auch noch in 20 Jahren bezahlen können, daran soll der Beamtenbund auch denken. Die denken immer, ich habe etwas gegen sie. Das stimmt nicht, ich denke nur langfristig.
Wir sind verfassungsmäßig so eingeschnürt durch den Artikel 33, Abs. 5, der sagt: der Öffentliche Dienst ist nach den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zu organisieren. Diese stammen aus der Bismarckzeit und der Weimarer Republik und sind meiner Ansicht nach nicht mehr zeitgemäß.

Müsste man nicht noch stärker an die Pensionen herangehen?

Kretschmann: Das läuft in der Tat dramatisch auseinander. Die Beamtenschaft müsste erkennen, dass sie in außerordentlicher Weise sehr gut gestellt ist. Dafür kann man auch mal Einbußen bei der Übertragung von Tarifrunden in Kauf nehmen.

Müssten sie da nicht noch konsequenter sein?

Kretschmann: Es ist ja bekannt, dass ich eigentlich eine Nullrunde wollte. Die wäre auch haushaltspolitisch notwendig gewesen. Wir merken einfach: Die Vorgängerregierungen haben das schleifen lassen. Wir können nicht so viel auf einmal machen. Wir wollen ja das Verhältnis zu unseren Beamten nicht noch weiter verschlechtern.
Wir schätzen unsere Beamtenschaft. Seit ich regiere schätze ich sie noch mehr als vorher. Das sind hochmotivierte, leistungsbereite Menschen, die ich um mich herum habe. Und eine gute Demokratie funktioniert überhaupt nur mit einer loyalen und gesetzestreuen Beamtenschaft. Die haben wir, und das ist zu würdigen.

Sind eigentlich noch so viele Verbeamtungen erforderlich?

Kretschmann: Angestellte sind teurer, aber die eigentliche Rechnung für Beamte kriegen sie erst nach deren aktiver Zeit. Das System grundsätzlich zu verändern, das bekommen sie nur im Geleitzug aller Länder hin. Die ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis hat das einmal versucht und musste dann wieder zurückrudern. Das sind auch Zwänge, die uns Fesseln anlegen. Allerdings gibt es keinen sachlichen Grund, warum ein Lehrer oder Professor Beamter sein muss.

Um der Schuldenbremse im Grundgesetz gerecht zu werden, müssten bis 2020 nahezu 30.000 der gut 208.000 Stellen gestrichen werden, sagt der Präsident des Rechnungshofs. Ist es nicht eine Ohrfeige für die Landesregierung, dass der Rechnungshof nun eine Enquetekommission des Landtags fordert?

Kretschmann: Solche reinen Rechenoperationen bringen nichts. Rechnen können wir auch. Wir wissen selber, wie viele Stellen wir theoretisch streichen müssten. Ich wäre dankbar, wenn das mit einer Aufgabenkritik verbunden wäre. Wir bekommen durch die EU immer mehr aufgebürdet, Beispiel Verbraucherschutz, Beispiel Tierschutz. Das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung wird ebenfalls immer größer. Gerichtsurteile zwingen uns dazu, noch mehr Kontrolle und Differenzierung zu machen. All das erfordert an sich noch mehr Personal. Insofern ist der Trend genau gegenläufig.
Sicherlich müssen und werden wir weitere Stellen einsparen. Aber wie wir das jedenfalls bis 2020 in der Größenordnung machen sollen, kann ich mir gar nicht vorstellen. Schließlich soll das Land ja noch ordentlich regiert werden. Und Sie sehen ja, welcher Gegenwind uns schon bei der Streichung von 11 600 Lehrerstellen entgegen bläst.

Sie haben sich in der ersten Föderalismuskommission für eine weitgehende Veränderung des Beamtenstatus eingesetzt. Was sollte geändert werden?

Kretschmann: Wenn es nach mir ginge, würde der Artikel 33 Absatz 5 abgeschafft. Das besondere Dienst- und Treueverhältnis des Artikel 33 Absatz 4, das reicht ja schon. Dann könnten wir die Spielräume, auf eine moderne Gesellschaft bezogen, neu zu bestimmen. Wir müssen von dem reinen Alimentationsprinzip herunterkommen, hin zu Regelungen, wie sie im sonstigen Arbeitsleben eigentlich üblich sind: das man nach Funktion bezahlt wird und nicht einfach nach Status, dass man Leitungsfunktionen wie zum Beispiel Schulleiter auf Zeit vergibt. Statusfragen bei Pensionen wären auch neu zu regeln. Da gibt es meiner Ansicht nach viele völlig überkommene Gepflogenheiten.
Aber ich muss mich auch an Verfassungsartikel halten, die mir nicht passen. Und wir machen auch bei den Beamten, insofern können diese ganz beruhigt sein, nur Dinge, die uns die Verfassung möglich macht.

Welche Sünden sind Ihrer Meinung nach in der Politik verzeihlich - und welche unter keinen Umständen?

Kretschmann: Es gehört zum Charme der Demokratie, dass in ihr die menschliche Tugend des Verzeihens praktiziert wird, ohne die wir gar nicht leben könnten - denn wir können ja die Vergangenheit nicht ändern. In der Demokratie kann man alles verzeihen, ja man muss sogar verzeihen.
Ich nenne mal ein Beispiel. Selbst der verfassungswidrige Kauf der EnBW durch meinen Vorgänger Stefan Mappus, den muss ich politisch verzeihen, weil der Vertrag trotzdem gültig ist. Das heißt, ich bin Erbe einer zwar verfassungswidrigen, aber trotzdem rechtskräftigen Entscheidung in einer gigantischen Höhe von fünf Milliarden Euro. Politisch-persönlich muss man das Mappus nicht verzeihen. Er hat einen schweren Fehler gemacht. Ich muss es annehmen und schauen, dass ich das Beste daraus mache.
Demokratie ist eigentlich die Gesellschaftsform, in der die menschliche Tugend des Verzeihens zur Konstitution der Verfassung gehört. Selbst aus meiner Sicht so falsche Handlungen wie der Einstieg in die Atomenergie. Wir merken das jetzt bei der Endlagerdiskussion. Wir müssen Entscheidungen treffen, die einen Zeitraum von einer Millionen Jahre umfassen. Das übersteigt das menschliche Maß ja in jeder Hinsicht. Weniger pathetisch gesagt: Man erbt immer Gutes und Schlechtes und damit muss man umgehen.

Das Gespräch führten Breda Nußbaum und Christoph Müller

Quelle:

Staatsanzeiger für Baden-Württemberg