Gesundheitsschutz

Das Präventionsparadoxon und die Lockerungsdiskussionen

Berechne Lesezeit
  • Teilen
Landes-Behindertenbeauftragte Stephanie Aeffner mit Atemschutzmaske beim Telefonieren

Die Landes-Behindertenbeauftragte, Stephanie Aeffner, betont das Recht von Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen auf Teilhabe – auch während der Corona-Pandemie. Maßnahmen zum Infektionsschutz dürften diese Menschen nicht ausschließen.

Am Anfang war die Solidarität groß. Wir hatten die Bilder aus Italien und Spanien vor Augen von Militärlastwagen, die Leichen abtransportieren und von weinendem Krankenhauspersonal, das unter katastrophalen Bedingungen tragische Entscheidungen über Leben und Tod treffen musste. Vor diesem Hintergrund trug unsere Gesellschaft die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und den Lockdown in großer Mehrheit mit. Und viele zeigten sich solidarisch mit der sogenannten „Risikogruppe“. Unter diesem Hashtag firmierte in den sozialen Medien eine Gruppe von jungen Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen, die darauf aufmerksam machte, dass eben nicht nur „Alte“ besonders gefährdet sind durch eine Infektion mit COVID-19. Damit schaffte diese Gruppe es sogar in das ZDF heute journal.

Und jetzt, gut zwei Monate später? Der Schutz der Gesundheit aller Bevölkerungsgruppen wird allenfalls noch marginal diskutiert. Vielmehr hat das Ausbleiben einer Überlastung des Gesundheitswesens zumindest in seiner Gesamtheit – denn lokal hatten wir sehr wohl Probleme, für alle akut benötigte Intensivbetten zur Verfügung zu stellen, auch in Baden-Württemberg – in vielen gesellschaftlichen Diskursen dafür gesorgt, dass das Risiko durch die Pandemie auf einmal nicht mehr so dramatisch erscheint.

Physische Belastungen sind nicht zu unterschätzen

Ich verstehe, dass die Einschränkungen für viele Menschen große Härten mit sich gebracht haben. Viele Menschen sehen sich vor großen finanziellen Schwierigkeiten, sorgen sich um ihr Arbeitseinkommen und sehen die wirtschaftliche Entwicklung und damit auch die des Arbeitsmarktes mit großer Sorge. Eltern – vor allem Mütter, die immer noch den Großteil der Familien- und Sorgearbeit tragen – sind am Rande des Zusammenbruchs, weil sie neben ihrer Arbeit – im günstigsten Fall im Homeoffice – plötzlich wegen geschlossener Kitas und Schulen auch noch als Ersatzlehrerinnen und Ersatzlehrer fungieren müssen, pflegebedürftige Angehörige zu versorgen habe und auf keine Entlastung zum Beispiel durch Tages- und Nachtpflege mehr Zugriff haben. Die Abwesenheit physischer Kontakte zu Freunden und Angehörigen belastet viele psychisch sehr stark.

Und doch! Ja, die Infektionszahlen sind zurückgegangen. Ja, es gibt Regionen, in denen es keine Neufälle mehr gibt. Aber: Wenn sich jemand mit einer Vorerkrankung oder Behinderung mit COVID-19 infiziert, und wegen dieser an den Folgen dieser bösartigen Viruserkrankung droht zu versterben, wird es ihm und seinen Angehörigen herzlich egal sein, dass das Risiko einer Infektion viel geringer war als im März. Und das gilt genauso für die „Fitten und Gesunden“ – denn auch diese sterben teilweise oder haben dramatische Krankheitsverläufe mit noch nicht absehbaren Langzeitschäden. Gestern Abend berichtete der „Weltspiegel“ über mit COVID-19 assoziierte dramatische Krankheitsverläufe bei Kindern. Sicher fühlen kann sich also niemand, solange wir weder eine medikamentöse Therapie noch einen Impfstoff haben.

Landes-Behindertenbeauftragte kritisiert Öffnungs-Diskussion

„Dennoch hat sich die Debatte gedreht. In meiner Wahrnehmung in einen Überbietungswettbewerb, welches Bundesland als erstes zu einer scheinbaren Normalität zurückkehren kann. Denn die wirtschaftlichen Schäden des Lockdowns haben für viele Menschen auch gravierende Folgen. Ich verstehe das!“, so die Landes-Behindertenbeauftragte. „Was ich allerdings nicht verstehe, ist, dass manche Schutzmaßnahmen niemandem wehtun, aber sich beispielsweise um die Pflicht zum Tragen von Masken groteske Debatten entzünden, dadurch würden Grundrecht eingeschränkt. War es nicht mal das gemeinsame Verständnis unseres Grundgesetzes, dessen 71. Geburtstag wir gerade begangen haben, dass alle individuellen Rechte nur so weit reichen, solange ich niemand anderes dadurch in seinen Rechten einschränke? Thüringen will gar alle Beschränkungen aufheben. Welch ein Irrsinn!“, so Stephanie Aeffner weiter.

Was sagen wir dem Schüler mit Mukoviszidose, der eigentlich dieses Jahr Abitur schreiben würde, und dem es „freigestellt“ ist, ob er das Infektionsrisiko in Kauf nimmt oder lieber ein Schuljahr verliert? Was der Kassiererin im Supermarkt, die wegen ihrer Asthmaerkrankung nicht arbeiten kann und massive finanzielle Einbußen hat – neben der Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil sie eben nicht eingesetzt werden kann? Was dem Menschen, der eine Organtransplantation hinter sich hat und deshalb aus Gründen des Selbstschutzes dann eben keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen kann, wenn dort niemand mehr Mund-Nasen-Schutzmasken trägt?

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Ich erwarte, dass die Würde jedes Menschen als Grund und Menschenrecht unantastbar ist! Politik hat für einen Ausgleich der verschiedensten Interessen zu sorgen. Und dabei stellt die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN), die geltendes Recht in Deutschland ist, ein wichtiges Referenzdokument für das staatliche Handeln im Bund, in den Ländern und Kommunen dar. Der Staat muss gerade in Krisenzeiten dafür sorgen, dass sich die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nicht verschlechtert und dass sie durch vermeintlich neutrale Regelungen nicht benachteiligt bzw. diskriminiert werden. „Wann also führen wir endlich die Debatte, wie wir ein Leben mit der Pandemie so gestalten, dass wir nicht mindestens ein Viertel der Bevölkerung (plus alle Angehörigen) für das nächste Jahr zu Hause einsperren? Ich plädiere sogar für eine Ausweitung der Maskenpflicht! Wir müssen die Produktion von FFP-2-Masken so hochfahren, dass wir die gesamte Bevölkerung damit versorgen können. Denn es gibt auch Menschen mit Vorerkrankungen, die gerade deshalb keine Masken tragen können. Und die können nur an unserem gesellschaftlichen Leben teilhaben, wenn alle anderen Masken tragen, die das Infektionsrisiko minimieren! Und sie haben das gleiche Recht darauf, ihren Lebensunterhalt verdienen zu können (denn mitnichten sind das alles Rentnerinnen und Rentner), Schulbildung zu erhalten, an Sitzungen ihres Gemeinderates als interessierte Bürgerinnen und Bürger teilzunehmen oder schlicht, genauso Freunde zu treffen oder am kulturellen Leben teilzuhaben“, bekräftigte Aeffner.

Was ist bitte die Einschränkung der Freiheit des einzelnen, ohne Maske draußen unterwegs sein zu dürfen angesichts der Einschränkungen, die dieser große Teil unserer Bevölkerung erleidet, wenn wir nicht alle wieder füreinander Verantwortung tragen und jeder sein mögliches dazu beiträgt, dass „niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wird. Und dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt wird“, vergleiche Artikel 3 Grundgesetz? Seien wir endlich wieder Menschen, seien wir soziale Wesen und achten das Recht eines jeden ein eben solches zu sein.

Landes-Behindertenbeauftragte

Quelle:

Die Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

Weitere Meldungen

Deutschkurs in einer Volkshoschschule (Symbolbild: © dpa).
Weiterbildung

Breiter Schulterschluss für die Zukunft der Erwachsenenbildung

Minister Manne Lucha und Staatsministerin Madhuri Misal des indischen Bundesstaats Maharashtra sitzen nebeneinander an einem Tisch und unterzeichnen Dokumente.
Delegationsreise

Baden-Württemberg und Maharashtra vertiefen Partnerschaft

Eine junge Frau wird geimpft.
Gesundheit

Jetzt noch gegen Grippe impfen lassen

Pilotprojekt fürsorgende Gemeinschaft in Waldstetten: gemeinsam Zukunft gestalten
Gesellschaftliche Teilhabe

Ein Netzwerk für mehr Lebensqualität im Alter

Einsatzkräfte der Feuerwehr errichten am Nonnenbach in Bad Saulgau im Ortsteil Moosheim einen Damm mit Sandsäcken gegen das Hochwasser.
Katastrophenschutz

Neues Katastrophenschutzgesetz beschlossen

Tauberufer in Wertheim
Städtebauförderung

Kernstadt Wertheim erfolgreich saniert

Ein fahrender Regionalzug
Schienenverkehr

Ausbau der Schiene im Land geht weiter voran

Ein Haus, dessen Grundgerüst aus Holz besteht, steht in einem Tübinger Neubaugebiet. (Bild: picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa)
Forst

Holzbaulösungen für Kommunen und die Wohnungswirtschaft

Häuser in Stuttgart werden von der Morgensonne beschienen. (Bild: picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa)
Wohnraumförderung

Z15-Darlehen in der Wohnraumförderung digital beantragbar

Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Auf dem Display sieht man die Startseite der Ehrenamtskarten-App für Baden-Württemberg.
Bürgerengagement

Ehrenamtskarte jetzt auch per App verfügbar

Logo des Landespreises 2020 für junge Unternehmen. (Bild: L-Bank)
Wirtschaft

Landespreis für junge Unter­nehmen 2026 ausgeschrieben

Symbolbild: Symbolbild: Ein Passant geht an dem Logo der Agentur für Arbeit vorbei. Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag, 5. November 2019, sein Urteil zu Leistungskürzungen für unkooperative Hartz-IV-Bezieher verkündet. (Bild: picture alliance/Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa)
Arbeitsmarkt

Arbeitslosigkeit verharrt auf höherem Niveau

Ein Pfleger eines Pflegeheims schiebt eine Bewohnerin mit einem Rollstuhl.
Pflegeberufe

Lucha auf Delegationsreise in Indien

Verkehrsminister Hermann, Amtschef Frieß sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesradeln durch eine Fahrradstraße.
Radverkehr

Rekord beim STADTRADELN 2025

Ein mit dem HI-Virus infizierter Mann hält eine rote Schleife als Symbol der Solidarität mit HIV-Positiven und Aids-Kranken.
Gesundheit

40 Jahre Aidshilfen in Baden-Württemberg