Flüchtlingshilfe

„Wir können wieder leben“ – Jesidinnen und ihr Leben im Südwesten

v.l.n.r.: Salwa Rasho, Jesidin und IS-Überlebende, Staatsministerin Theresa Schopper und der Tübinger Mediziner Florian Junne bei einem Pressegespräch (Bild: Marijan Murat/dpa)
v.l.n.r.: Salwa Rasho, Jesidin und IS-Überlebende, Staatsministerin Theresa Schopper und der Tübinger Mediziner Florian Junne

Baden-Württemberg hat rund 1.000 IS-Opfer aus dem Irak aufgenommen. Wie bewerten die betroffenen Jesiden das Projekt? Eine junge Frau erzählt – auch vom schwierigen Anfang in Deutschland.

Als Salwa Rasho im Juli 2015 aus dem Irak nach Deutschland kam, spürte sie fast nichts außer Trauer. „Ich konnte kein Wort Deutsch. Ich kannte keine Leute hier. Ich kannte nichts von der Kultur“, erzählt die heute 21-Jährige mit leiser Stimme. „Ich war einfach plötzlich da.“ Familienangehörige und Freunde waren weit weg oder tot. Sehr traurig habe sie sich gefühlt und viel geweint. Nach einem Jahr habe sie dann aber begonnen, ein neues Leben aufzubauen.

Rasho ist eine von rund 1000 Frauen, die seit 2015 über ein Sonderkontingent nach Baden-Württemberg gekommen sind. Auf Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte sich das Bundesland entschlossen, in eigener Regie Frauen und Kinder aufzunehmen, die Opfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geworden sind. Dafür gab es keine Blaupause. „Der Kampf gegen die Windmühlen war erst einmal relativ groß“, erzählt die Staatsministerin in der Regierungszentrale, Theresa Schopper.

Sommer 2014: Das Martyrium der Jesiden 

Kretschmann hatte zuvor Fotos von gepeinigten Jesiden gesehen. Die Jesiden erlebten im Sommer 2014 ein Martyrium, als IS-Truppen den Nordirak überrannten. Tausende Männer wurden von Extremisten umgebracht, Tausende Frauen und Kinder verschleppt, versklavt und missbraucht. Manche wurden gleich mehrfach wie Vieh verkauft. Die UN sprachen von einem Völkermord an der religiösen Minderheit. Nach der Vertreibung des IS tauchten viele Massengräber auf. Noch heute sind nach Schätzungen etwa 3000 Frauen verschwunden – Schicksal unbekannt.

Auch Rasho befand sich acht Monate in IS-Gefangenschaft. „Darüber will ich gar nicht reden.“ Niemals könne sie das in Worte fassen, was sie erlebt habe, sagt die 21-Jährige. Im April 2015 gelang ihr die Flucht. Danach lebte sie mit ihren Eltern in einem Lager in einem Zelt – unter schwierigsten Bedingungen. Den Irak und ihre Familie verlassen, das wollte sie eigentlich nicht. Am Ende aber sah sie keine andere Möglichkeit. Wie es für sie im Irak weitergegangen wäre, wenn sie geblieben wäre? „Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall nicht gut.“ Mittlerweile lebt auch Rashos Familie in Deutschland.

Wissenschaftliche Untersuchung des Projekts

Neben Baden-Württemberg haben Niedersachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein Jesiden aufgenommen. Auch Kanada, Frankreich und Australien folgten nach Schoppers Worten. Ein Kontingent des Bundes für die Aufnahme weiterer Jesiden in Deutschland ist laut Schopper angedacht. Wegen der schwierigen politischen Situation im Grenzgebiet des Irak zu Syrien ist die Umsetzung aber noch ungewiss.

Ein Team um den Tübinger Mediziner Florian Junne hat das baden-württembergische Projekt jetzt wissenschaftlich untersucht. Auf freiwilliger Basis wurden mehr als 100 aufgenommene Frauen befragt. Rund 90 Prozent zeigten sich überaus zufrieden mit dem Sonderkontingent. Zu den positiven Aspekten zählten sie Sicherheit, die Versorgung mit Nahrung, Wohnung und Medizin und die Versorgung der Kinder. Als Kritik führten sie unter anderem an, dass die Unterbringung im Land beengt gewesen sei und dass sie Familienangehörige im Irak zurücklassen mussten – wie Rasho.

Auf dem Weg, ein eigenes Leben zu führen

Die meisten Frauen haben laut Junne gesundheitlich weiter mit den Folgen der erlittenen Traumata zu kämpfen. Dennoch habe ihn überrascht, mit welcher Stärke und welchem Überlebenswillen die Frauen aufträten. Wie Schopper berichtete, sind viele Frauen auf dem Weg, ein eigenes Leben zu führen. Sie machen etwa Schul- und Berufsausbildungen. So auch Rasho: Sie hat Deutsch gelernt, besucht die Schule und spricht öffentlich über ihr Schicksal und das der Jesiden. Die junge Frau geht regelmäßig zum Kickboxen, spielt Fußball, liest viel und versucht auch über eine spezielle Therapie, mit ihren traumatischen Erfahrungen zurechtzukommen. „Meine Tage sind immer voll.“

Rasho reist regelmäßig in den Irak, um sich dort um Waisenkinder und Kinder aus IS-Gefangenschaft zu kümmern. „Wir versuchen, ihnen Spaß zu bringen.“ Ihr selbst macht der Umgang mit den Kindern Freude. Doch Rasho bleibt hin- und hergerissen zwischen Deutschland und dem Irak. „Immer, wenn ich dort bin, vergesse ich, dass ich in Deutschland war. Wenn ich zurück in Deutschland bin, vergesse ich, dass ich irgendwann im Irak war.“ Rasho wünscht sich, irgendwann wieder in ihrer Heimat leben zu können. Trotz all der Trauer zu Beginn in Deutschland, sagt sie, dass das Sonderkontingent für sie wichtig gewesen sei. „Wir können sagen, was mit uns passiert ist. Wir können wieder leben.“

Von Bettina Grachtrup und Jan Kuhlmann, dpa

Quelle:

dpa

Weitere Meldungen

Eine Spritze liegt auf einem Impfpass.
  • Gesundheit

Europäische Impfwoche sensibilisiert für Bedeutung von Impfungen

Schüler warten auf ihr Mittagessen, im Vordergrund stehen Teller mit geschnittenem Gemüse. (Foto: dpa)
  • Ernährung

Bewusste Kinderernährung im Kindergarten Steinlachburg

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei seiner Rede
  • Wohnen und Bauen

Zwölf Projekte für bezahlbares Wohnen und innovatives Bauen

Die Bewohner einer Wohngemeinschaft für Senioren unterhalten sich. (Foto: © dpa)
  • Quartiersimpulse

660.000 Euro für Quartiers-Projekte

Schloss Mannheim
  • Schlösser und Gärten

Neue digitale Angebote für Schlösser

Stethoskop vor farbig eingefärbtem Kartenumriss von Baden-Württemberg mit Schriftzug: The Ländarzt - Werde Hausärztin oder Hausarzt in Baden-Württemberg
  • Gesundheitsberufe

390 Bewerbungen für 75 Studienplätze der Landarztquote

Ministerialdirektorin Leonie Dirks steht vor Transfermobil und übergibt Fahrzeugschlüssel an Prof. Dr. Daniel Buhr vom Landeskompetenzzentrum Pflege & Digitalisierung.
  • Digitalisierung

Transfermobil bringt Pflege-Innovationen ins Land

Symbolbild zur Künstlichen Intelligenz mit einem Prozessor und dem Schriftzug "AI Artificial Intelligence Technology"
  • Innovation

InnovationCamp künftig an drei Standorten

Wengenviertel in Ulm
  • Städtebauförderung

235 Millionen Euro für Städtebaumaßnahmen

Enforcement Trailer der Polizei Baden-Württemberg zur Geschwindigkeitskontrolle.
  • Verkehrssicherheit

Bilanz der Geschwindigkeits­kontrollwoche

Ein von Schatten bedeckter Mann vor blauem Himmel hält ein Telefon in der Hand
  • Gewalt an Männern

Vier Jahre Männerhilfetelefon

Vier Jugendliche sitzen auf einer Freitreppe und betrachten etwas auf dem Smartphone
  • Jugendliche

Jugendliche diskutieren zum Thema „Was dich bewegt“

Die Europafahne weht auf dem Dach der Villa Reitzenstein, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg.
  • Europawahl

34 Parteien zur Europawahl zugelassen

Eröffnungsfeier Animated Week Stuttgart
  • Kunst und Kultur

Erste „Stuttgart Animated Week“ eröffnet

Gruppenbild vor dem baden-württembergischen Gemeinschaftsstand auf der Hannover Messe 2024
  • Wirtschaft

Kretschmann besucht Hannover Messe

Ein Verkehrsschild mit Tempo 30 und darunter dem Hinweis: „22 bis 6 h Lärmschutz“
  • Lärm

Tempo 30 gegen Straßenlärm

Gruppenbild mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (vorne, Mitte) und den Ordensprätendentinnen und Ordensprätendenten
  • Auszeichnung

Verdienstorden des Landes an 22 verdiente Persönlichkeiten

Ein Rettungswagen fährt mit Blaulicht. (Foto: © dpa)
  • Rettungsdienst

Neufassung des Rettungsdienstgesetzes auf den Weg gebracht

Zwei Polizeibeamte bei einer Streife.
  • Sicherheit

Positive Bilanz beim siebten länderübergreifenden Sicherheitstag

Glückliche junge Mutter mit neugeborenem Baby im Krankenhaus nach der Geburt.
  • Gesundheit

Studie zur Geburtshilfe veröffentlicht

Landessieger von „Jugend debattiert“ stehen fest (Bild: Kultusministerium Baden-Württemberg)
  • Schule

Landessieger von „Jugend debattiert“ gekürt

Deutscher Pavillon auf der Kunstbiennale Venedig 2024
  • Kunst und Kultur

Deutscher Pavillon auf der Biennale Venedig eröffnet

Euro-Banknoten und -Münzen
  • Haushalt

Rechtsgutachten zur Haushaltspraxis im Land

Hunde im Tierheim. (Bild: Norbert Försterling / dpa)
  • Tierschutz

Land fördert Neubau eines Tierheims in Bad Mergentheim

Breisgau-S-Bahn im Landesdesign (bwegt)
  • Schienenverkehr

Zuverlässigkeit auf der Breisgau-S-Bahn wird verbessert