Interview

„Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht jetzt im Vordergrund“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Landespressekonferenz (Foto: dpa).

Im Interview mit dem Badischen Tagblatt spricht Ministerpräsident Kretschmann über den Druck in der Krise, darüber, was gut gelaufen ist und was ihn am meisten beschäftigt. Und er lenkt den Blick auf eine seit Christi Geburt noch nie da gewesene Situation – die zwingende Einschränkung der Gottesdienste und somit ein Stück weit der Religionsfreiheit.

Badisches Tagblatt: Herr Kretschmann, wie gehen Sie um mit dieser, wie Sie selbst sagen, größten Krise Ihrer Amtszeit?

Winfried Kretschmann: Man muss Krisen annehmen, auch wenn das seltsam klingt. Im Vergleich zur Flüchtlingskrise 2015 sind die Herausforderungen noch viel größer und existenzieller. Und ganz wichtig ist dabei, nicht zu hadern, denn das blockiert die Kreativität. Gerade in einer Krise muss man aber jederzeit kreativ sein und sich etwas einfallen lassen.

Zum Beispiel?

Kretschmann: Ich habe einen Aufruf an unsere Wirtschaft gerichtet, zu schauen, ob wir nicht hier in Produktlinien einsteigen können, die wir dringend brauchen, die aber hier nicht produziert werden. Beispielsweise könnte doch die Automobilindustrie Bestandteile von Beatmungsgeräten produzieren oder Textilunternehmen Schutzkleidung und Schutzmasken. Die Resonanz war gewaltig. Also versuchen wir jetzt, die Hilfsbereitschaft der Wirtschaft so zu koordinieren, dass sie uns mit solch lebensnotwendigen Produkten unterstützt.

Wie hat sich Ihr Alltag verändert?

Kretschmann: Alle anderen Themen sind komplett in den Hintergrund getreten, obwohl sie langfristig natürlich weiter wichtig sind. Wer denkt heute noch an das Bienen-Volksbegehren, auch das Thema Artenschutz hatte mich vor der Krise sehr beschäftigt. Oder nehmen wir die Klimakatastrophe, auf die wir zusteuern. Wenn sich die Erde über zwei Grad erwärmt, dann werden ganze Länder untergehen und viele Menschen durch Hitzewellen sterben. Im Moment braucht es aber alle Kraft, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und Menschenleben zu retten.

„Unsere Demokratie ist auch auf extreme Herausforderungen vorbereitet“

Was beschäftigt Sie am meisten?

Kretschmann: Mich hat es getroffen, wie ich auf einmal die Grenze zwischen Baden-Württemberg und Elsass wieder spürte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das erlebe. Darüber müssen wir sehr tief nachdenken. Wie weit ist die Solidarität untereinander gegangen und wie weit hätte sie gehen müssen, damit Europa nicht in eine noch schwierigere Situation kommt? Wir helfen unseren Freunden im Elsass und haben Patienten übernommen, aber vielleicht hätten wir mehr tun müssen. Nach der Krise müssen wir daran arbeiten, dass der Austausch noch besser wird.

Was bewährt sich?

Kretschmann: Die Robustheit unserer Demokratie. Für solche Situationen gibt es ein altdeutsches Sprichwort: Not kennt kein Gebot. Das gilt aber in der Demokratie nicht, denn unsere Demokratie ist auch auf extreme Herausforderungen vorbereitet. Bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen, bewegen wir uns auf dem Boden des Grundgesetzes, wir setzen keine Grundwerte außer Kraft. Das müssen wir uns immer klar machen: Unsere Verfassungsordnung ist sehr stark und Gott sei Dank sogar auf so etwas vorbereitet. Da wird nichts geopfert, auch keine Freiheitsrechte. Vielmehr treten die lediglich für kurze Zeit in den Hintergrund, weil das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit jetzt im Vordergrund steht.

Aber zwischen Vordergrund und Hintergrund muss entschieden werden.

Kretschmann: Ja, aber das geschieht auf der Basis gesetzlicher Grundlagen. Bei einer Seuche darf die Freizügigkeit eingeschränkt und in Freiheitsrechte eingegriffen werden. Das steht im Grundgesetz. Aber alle Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, sie müssen durchsetzbar und so robust wie das Virus sein, sonst müsste man sie ja gar nicht machen. Am Ende geht es schließlich um Leben und Tod. Außerdem: Auch in der Krise steht der Gerichtsweg offen. Wir sind der erste Interpret der Verfassung, aber Bürgern ist es unbenommen, in so einer Situation die Gerichte anzurufen.

„Wir machen keine Basta-Politik“

Wo sind die Eingriffe besonders radikal?

Kretschmann: Da denken jetzt viele an den Datenschutz, aber die Datenschutzgrundverordnung gilt ja weiterhin. Besonders radikal sind die Eingriffe in die Religionsfreiheit. Die Kirchenleute sagen mir, dass es im ganzen Christentum so etwas nicht gegeben hat, dass keine Gottesdienste stattfinden. Nicht einmal bei der Christenverfolgung im alten Rom. Das Entscheidende ist aber, dass die Kirchen diesen Einschnitten selbst zugestimmt haben. Wir machen ja keine Basta-Politik, sondern wir reden immer mit den Menschen, denen wir so viel zumuten wie noch nie. Und wir dürfen nicht vergessen: Das alles ist nur temporär. Und wenn die Krise vorüber ist, steht die Demokratie auf dem Prüfstand. Denn dann müssen wir so radikal, wie wir jetzt Rechte eingeschränkt haben, sie auch wieder öffnen. Das ist die Nagelprobe. Und ich bin sehr sicher, dass das geschieht.

Sind Sie das auch, wenn sich aus freiwilligen Corona-Apps Geschäftsmodelle zur allgemeinen Datensammlung entwickeln ließen, um damit viel Geld zu verdienen?

Kretschmann: Selbstverständlich. Wir sind doch keine autoritären Krisengewinnler. Jetzt ist es sehr sinnvoll, Daten zu sammeln, weil Maßnahmen zur Unterbrechung von Infektionsketten nicht so tief sein müssen. Das machen wir, um die Menschen zu schützen. Und genau dieses Schutzinteresse ist die erste Begründung der Staatstheoretiker für den Staat überhaupt. Außerdem ist es auch ein Akt der Solidarität, vorübergehend eigene Freiheitsrechte aufzugeben, um das Leben der gesundheitlich Schwächsten zu retten. Jedenfalls stellen wir am Ende den Grundrechtskatalog wieder voll her, denn der ist uns heilig. Und die liberale Öffentlichkeit wird ein wachsames Auge darauf haben.

„Was ist an einem Virus gerecht?“

Wie gehen Sie damit um, dass die Eingriffe in die Wirtschaft zunehmend kritisiert werden?

Kretschmann: Das sind natürlich schwierige Abwägungen. Aber teilweise existiert da auch ein schiefes Bild. Wir haben nur in Teilen der Wirtschaft wie bei Non-Food-Geschäften, Gastronomie oder bei Reiseveranstaltern eingegriffen. Es gibt aber doch keine Ausgangsbeschränkungen für Menschen, die zur Arbeit gehen, nicht einmal an den Grenzen. Viele der großen Unternehmen haben selbst reagiert, weil die Lieferketten unterbrochen wurden oder die Nachfrage eingebrochen ist.

Der Ruf nach ersten Lockerungen wird immer lauter. Da wird es zwangsläufig wieder zu Kritik kommen, weil sich manche ungerecht behandelt fühlen …

Kretschmann: … was ist an einem Virus gerecht? Es ist höchst ungerecht, dass es solche Lebewesen überhaupt gibt. Klar, es mag hier und da Widersprüchlichkeiten geben, das will ich gar nicht bestreiten. Es liegt daran, dass alles schnell entschieden werden musste. Beispiel: Baumärkte. Dahinter stand die Überlegung, dass das Haus nicht überschwemmt werden darf, wenn ein Wasserhahn kaputt ist. Aber, in einem Baumarkt gibt es nun mal auch Blumen, also findet das der Blumenhändler ungerecht. Und das wird beim Ausstieg in einigen Fällen wieder so sein. Nehmen wir ein Autohaus – in dem ist viel Platz, und hygienische Vorschriften sind dort besser einzuhalten als etwa in einem Wirtshaus. Da gibt es halt große Unterschiede, aber auch das ist nicht zu ändern.

„Wir werden die richtigen Lehren ziehen“

Gibt es Bereiche im Land, in denen die Reaktion auf die Krise richtig gut gelaufen ist?

Kretschmann: Das Hochfahren der Kapazitäten in den Krankenhäusern hat hervorragend geklappt. Wir haben binnen Wochen die Zahl der Beatmungsbetten von 2.200 auf 2.800 erhöht. Bis Ende des Monats werden wir bei 3.800 sein. Wenn wir die Zielkapazitäten der Intensivbetten von 5.000 in Baden-Württemberg erreichen, so sind das laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mehr als in Frankreich oder Italien. Das zeigt, wie hervorragend unser Gesundheitssystem ist. Wo wir eigenständig handeln konnten, haben wir das gut organisiert. Wo wir von anderen abhängig sind, etwa bei den Schutzmaterialien, sieht es ganz anders aus, und das wird auch eine sorgfältige Aufarbeitung der Krise danach ergeben. Fest steht jedenfalls: Wir werden die richtigen Lehren ziehen.

Nach Expertenansicht hat es sich jetzt gezeigt, dass wir in manchen Bereichen in viel zu hohem Maße auf ausländische Produkte angewiesen sind.

Kretschmann: Die Abhängigkeit bei Medizinprodukten zählt dazu. Es geht nicht darum, autark zu werden, aber wir müssen die Prozesse neu durchdenken und bei sensiblen Produkten immer ein Standbein im eigenen Land behalten. Auch über das Gehaltsgefüge werden wir übrigens gründlich nachdenken müssen. Es geht sicherlich nicht nur um Fußballspieler, die nach der Krise wahrscheinlich nicht mehr so viel verdienen wie vorher. Ich hoffe sehr, dass da wieder Maß und Mitte einkehren. Und dann gibt es wichtige Bereiche, in denen es Unwuchten gibt, gerade in den Gesundheitsberufen. Aber das sind alles Fragen für danach. Wenn die Feuerwehr am Löschen ist, führt man keine Debatten über den Querschnitt der Schläuche.

Wann ist eigentlich dieses hinterher?

Kretschmann: Das weiß ich nicht. Aber ich bin nicht sicher, dass sich nach der Krise so viel ändern wird, wie man jetzt glaubt. Der Mensch lernt nur langsam. Die Erfahrung zeigt, dass sich der Alltag nach großen Krisen nicht grundsätzlich ändert.

Die Fragen stellte Johanna Henkel-Waidhofer

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Quelle:

Das Interview erschien am 9. April 2020 im Badischen Tagblatt
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