Interview

Steuersenkungspläne sind unseriös

Ministerpräsident Winfried Kretschmann

"Die Banken müssen wieder das tun, wozu sie da sind: Kredite verleihen - und eben nicht spekulieren", macht Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit Spiegel Online deutlich. Die Steuersenkungspläne der Bundesregierung lehnt er ab. Das sei unseriös und untergrabe das Vertrauen in Politik.

SPIEGEL ONLINE: Herr Ministerpräsident, die Euro-Krise führt zu einem massiven Vertrauensverlust der Menschen in die Politik. Was muss in Europa besser werden?

Kretschmann: Wenn man diese Verwerfungen sieht, dann muss es klar in eine Richtung der Vereinigten Staaten von Europa gehen. Ich bin Verfechter eines europäischen Bundesstaats. Auf Dauer hat es keinen Wert, mit 27 Finanzministern oder 27 Außenministern zu operieren. Die Chance für eine Neuordnung Europas liegt in dieser Krise.

SPIEGEL ONLINE: Welche konkreten Schritte schlagen Sie vor?

Kretschmann: Wir brauchen mehr Demokratie in Europa. Klar ist doch: Das herkömmliche inter-gouvernementale Agieren scheint in dieser Krise noch mal zu funktionieren - aber es schadet der EU. Europa braucht Offenheit und Transparenz und irgendwann auch ein echtes Parlament mit vollen Mitgliedsrechten. Aber jetzt müssen wir erst mal einen Brand löschen - und davon muss man Brandschutzmaßnahmen trennen.

SPIEGEL ONLINE: Wie beurteilen Sie die Brandlösch-Arbeiten von Kanzlerin Merkel?

Kretschmann: Beim Löschen sollte man nicht danebenstehen und herumkritikastern. Und niemand hat Erfahrungen angesichts des Ausmaßes der Euro-Krise, da fährt die Kanzlerin zu Recht auf Sicht.

SPIEGEL ONLINE: Zurzeit wird viel über die Macht der Banken diskutiert. Sollte man diese einschränken?

Kretschmann: Die Banken müssen wieder das tun, wozu sie da sind: Kredite verleihen - und eben nicht spekulieren. Für unseren Verantwortungsbereich, die Landesbank Baden-Württemberg, haben wir genau das getan: Sie wird auf ihr Kerngeschäft reduziert - Kreditierung der Wirtschaft, Zentralbank-Funktion für die Sparkassen, Begleitung des Mittelstands ins Ausland. Ich halte eine Regulierung, die in diese Richtung geht, für den gesamten Bankenbereich für zwingend.

SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von der Finanztransaktionssteuer?

Kretschmann: Auch die muss her. Diese Steuer ist ein Instrument, um die Banken zur Verantwortung zu ziehen und ein wichtiger Baustein zur dauerhaften Beruhigung der entfesselten Finanzmärkte. Zweitens brauchen wir dringend eine Reform der Rating-Agenturen. Ihre Bedeutung müssen wir reduzieren. Die Noten dieser Agenturen dürfen nicht mehr entscheidend sein, sondern zu einer Meinung von mehreren werden. Eigene Bonitätseinschätzungen der Finanzmarktakteure müssen wieder stärker Grundlage ihrer Geschäftspolitik sein. Außerdem muss die einseitige Dominanz der US-Rating-Agenturen durch die Einrichtung einer unabhängigen europäischen Rating-Agentur durchbrochen werden.

SPIEGEL ONLINE: Seit einigen Wochen sorgt die "Occupy"-Bewegung für zusätzlichen Druck auf die Banken. Welchen Einfluss sehen Sie für diese Proteste?

Kretschmann: Ich bin Ministerpräsident und kein Prophet.

SPIEGEL ONLINE: Aber Sie kennen sich mit Bürgerbewegungen aus.

Kretschmann: Bei Stuttgart 21 war auch schwer vorauszusagen, wie sich das entwickelt - auf einmal ist der Protest explodiert. Die "Occupy"-Bewegung bedeutet in jedem Fall weiteren Rückenwind für die Politiker, die die Banken regulieren wollen. Aber natürlich müssen auch wir unsere Hausaufgaben machen - und das heißt solide Haushaltspolitik.

SPIEGEL ONLINE: Die Bundesregierung plant Steuererleichterungen - ist das solide Haushaltspolitik?

Kretschmann: Ich finde Steuersenkungen in der jetzigen Lage gespenstisch. Was sollen sich die Menschen eigentlich denken, wenn Schwarz-Gelb mitten in der Euro-Krise, in der man Hunderte Milliarden braucht, von Steuersenkungen schwadroniert? Das ist ein Ausbund an Unseriosität und untergräbt massiv das Vertrauen in Politik.

SPIEGEL ONLINE: Also wird es im Bundesrat keine Mehrheit für diese schwarz-gelben Pläne geben?

Kretschmann: Nein. In Baden-Württemberg erhöhen wir gerade die Grunderwerbsteuer um 1,5 Prozentpunkte, damit wir mehr in frühkindliche Bildung und Betreuung investieren können, weil das unbedingt erforderlich ist. Natürlich gibt es ein Gegrummel wegen der Steuererhöhung, aber es fällt sehr leise aus: weil die Menschen verstehen, wofür das verwendet wird.

SPIEGEL ONLINE: Die größte Bewährungsprobe steht Ihnen noch bevor: Wie wollen Sie Ihr Gesicht wahren, wenn der Ministerpräsident Kretschmann nach der Volksabstimmung Stuttgart 21 bauen muss?

Kretschmann: Sie können doch gar nicht wissen, wie die Volksabstimmung ausgeht.

SPIEGEL ONLINE: Aber vieles spricht dafür, dass Sie entweder eine Mehrheit gegen das Projekt verfehlen - oder das notwendige Quorum im Falle einer Mehrheit.

Kretschmann: Das sehe ich anders. Grundsätzlich: Es war die klare Ansage von Grünen und SPD, dass wir das Volk über diese Frage entscheiden lassen. Wenn man für direkte Demokratie ist, aber das letzte Wort des Volks in Frage stellt, dann darf man sich darauf nicht einlassen. Meiner Glaubwürdigkeit wird es also nicht schaden, wenn ich den Willen des Volks akzeptiere. Klar, wir sind in der S-21-Frage sehr leidenschaftlich, ich bin ja wirklich ein erklärter Gegner des Projekts. Deshalb lässt mich die Vorstellung, wir könnten die Volksabstimmung verlieren, natürlich nicht kalt. Aber damit müssten wir dann gegebenenfalls umgehen. Fakt ist: Die Entscheidung der Volksabstimmung gilt.

SPIEGEL ONLINE: Die Grünen verlieren in den Umfragen, Ihre Parteifreundin Renate Künast scheiterte in Berlin. Ist das Ende des grünen Höhenflugs besiegelt?

Kretschmann: Renate Künast hat in Berlin ein sehr gutes Ergebnis erreicht. Man kann doch jetzt nicht erwarten, dass die Grünen die Regierungssitze im Sturm erobern. Zumal die Wähler immer schleckiger werden, wie man auf Schwäbisch sagt, also anspruchsvoller: Das heißt, die Stammwähler nehmen ab, die Wechselwähler zu. Man wird also sehr schnell mit Liebesentzug bestraft. In Panik verfallen sollten wir wegen der sinkenden Umfragen nicht. Wichtig ist, dass die Grünen bei ihren Werten bleiben und sich nicht den politischen Konjunkturen ausliefern.

SPIEGEL ONLINE: Bereiten Ihnen die Piraten Sorgen?

Kretschmann: Für mich sind es in erster Linie Protestwähler, die sich für die Piraten begeistern, mit einem Faible für das Netz. Ob daraus etwas Dauerhaftes wird, weiß ich nicht. Manches erinnert ja an unsere eigene Jugendzeit - nur hatten die Grünen damals eine tragfähige Idee, nämlich unsere Lebensweise mit den Grundlagen des Planeten kompatibel zu machen. So etwas sehe ich bei den Piraten noch nicht. Aber wenn sie diese Idee finden, können sich die Piraten selbstverständlich im Parteiensystem etablieren. Jedenfalls ist es mir lieber, der Protest geht zu ihnen, als zu irgendeiner dumpfen, rechten, europafeindlichen Gruppierung.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Partei scheint allerdings besonders wegen des Erstarkens der Piraten zu leiden. Welche Reaktion erwarten Sie von den Grünen?

Kretschmann: Anderen Parteien etwas schnell nachzumachen hat noch nie geklappt. Wenn wir das bei den Piraten versuchen, beispielsweise in den Jugendkult zu verfallen, dann sind die immer schneller und ein Stück weiter. Wir haben es nicht nötig, den Piraten hinterherzurennen. Das Netzthema ist wichtig für uns, und wir sind da gut aufgestellt. Das muss wohl noch erkennbarer werden. Aber die Piraten schrecken mich nicht, das sehe ich gelassen.

SPIEGEL ONLINE: Sie scheinen sich Ihrer Sache sehr sicher zu sein.

Kretschmann: Wir Grüne haben immer gestritten wie die Kesselflicker, 15 Jahre zwischen Fundis und Realos. Dass wir das überlebt haben, wo die Deutschen Parteienstreit selbst in moderater Form nicht mögen, grenzt an ein Wunder. Und es kann nur damit erklärt werden, dass unsere Idee "Natur als Politik" so tragend und notwendig war, dass sie uns hat überleben lassen. Was man heute Nachhaltigkeit nennt, haben wir irgendwann ausgeweitet auf die Sozialsysteme oder die Haushaltspolitik - bei der Piratenpartei sehe ich eine solche tragende Idee nicht. Außerdem: Ich finde es schon eigenartig, dass gerade die Piraten als Männerpartei im 21. Jahrhundert ein Ausbund von Frische sein sollen.

SPIEGEL ONLINE: Nach den Verwerfungen in Berlin und den sinkenden Umfragewerten Ihrer Partei: Hat Rot-Grün aus Ihrer Sicht noch Zukunft für 2013?

Kretschmann: Natürlich, auch wenn es kein exklusives Projekt ist. Aufgrund der politischen Gemengelage hat Rot-Grün eine echte Perspektive, weil CDU und CSU in vielerlei Fragen keine Orientierung mehr haben. Die Union gehört in die Opposition.

SPIEGEL ONLINE: Die Grünen stehen also für eine Koalition mit der Union 2013 nicht zur Verfügung?

Kretschmann: In der Politik gibt es immer Willen und Arithmetik. Manchmal siegt Letzteres - und dann muss man natürlich gesprächsfähig sein. Überraschende Konstellationen bleiben nie aus in der Politik, das weiß ich besonders gut. Deshalb sollten wir keine Ausschließeritis betreiben. Für uns Grüne kommt es darauf an, weiter eigenständige Politik zu betreiben - aber gegenüber allen demokratischen Parteien koalitionsfähig zu bleiben. Und wir müssen sagen, was unser Vorzugsprojekt ist: eine Koalition mit der SPD.

SPIEGEL ONLINE: Das Zugpferd für diese Koalition könnte der Sozialdemokrat Peer Steinbrück sein. Ist das ein Kandidat, der für Rot-Grün steht?

Kretschmann: Er hat jedenfalls schon mit den Grünen koaliert. Und: Peer Steinbrück ist ein sehr kluger und erfahrender Politiker.

SPIEGEL ONLINE: Manche Parteifreunde von Ihnen erzählen Schauergeschichten aus der gemeinsamen Regierung unter Steinbrück in Nordrhein-Westfalen.

Kretschmann: Aber das ist doch alles Vergangenheit. Wenn ich nur an den SPD-Politiker Holger Börner denke, der 1985 als hessischer Ministerpräsident die erste Koalition mit den Grünen in einem Bundesland wagte, da war ich ja als Mitarbeiter von Joschka Fischer dabei - das waren Zeiten. Dass so ein Haudegen wie der Steinbrück früher Anwandlungen hatte, uns ein bisschen zu peinigen, stört mich heute wenig. Solche Versuchungen gibt es immer. Aber eines ist klar: Ich halte Steinbrück für kanzlerabel.

SPIEGEL ONLINE: Eine Frage zum Schluss: Sie gelten als leidenschaftlicher Bahnfahrer, sind aber als Ministerpräsident viel mit dem Auto unterwegs. Wann haben Sie das letzte Mal den Zug benutzt?

Kretschmann: Vor ungefähr zwei Wochen. Da gab es dann aber plötzlich eine Panne, deshalb musste ich aussteigen und meinen Fahrer herbeiordern. Auch deshalb liege ich mit meiner Haltung zu Stuttgart 21 richtig: Da soll auf einmal alles funktionieren, was sonst nie bei der Bahn perfekt funktioniert. Nächste Woche werden wir zur Auslandsreise nach Paris wieder mit dem Zug reisen - allerdings nicht mit der Deutschen Bahn, sondern dem TGV.

Das Interview führten Florian Gathmann und Roland Nelles.

Quelle:

Spiegel Online

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