Tag der Deutschen Einheit

Rede von Ministerpräsident Kretschmann zum Tag der Deutschen Einheit in Brackenheim

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Archivbild vom 18. Oktober 2013)

Unter dem Titel „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann anlässlich der Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit im Bürgerzentrum Brackenheim die folgende Festrede gehalten:

I. Wunder in der Politik?

Ich bin heute sehr gerne nach Brackenheim gekommen, um bei Ihrer traditionellen Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit zu Ihnen zu sprechen. Herrn Bürgermeister Kieser danke ich ganz herzlich für die Einladung gerade nach Brackenheim. Denn hier in Ihrer Stadt wurde Theodor Heuss geboren. Die Stadt und die Landschaft haben die Persönlichkeit des großen Liberalen, des weltweit geachteten Bundespräsidenten und des bekennenden Schwaben geprägt. Und obwohl seine Geburt in Brackenheim schon 130 Jahre zurückliegt und obwohl er schon vor 5o Jahren auf  dem Stuttgarter Waldfriedhof beigesetzt wurde, ist gerade die zweite Heuss-Biografie innerhalb kurzer Zeit erschienen, ist er in der Erinnerung erstaunlich vieler Menschen noch präsent und lebendig. Und auch ich bewundere seine demokratische und zivile Haltung, die er bei der Arbeit am Grundgesetz mit in den parlamentarischen Rat einbrachte.

In den Wirtschaftswunderjahren der Bundesrepublik, die in unseren unsicheren Tagen schon wieder nostalgisch verklärt werden, war er einer der seltenen Politiker, die die Republik durch  Authentizität und Klugheit international rehabilitierten konnten.

Seine politische Leistung bestand darin, wieder an den starken freiheitlichen Traditionen der süddeutschen Liberalen anzuknüpfen und „Politik durch Kultur“ durchzusetzen und weniger durch Machtmittel.

Und seine persönliche Leistung war es, sich im „politischen Funktionsbetrieb“ nicht aufreiben zu lassen, und mit sich im Reinen zu bleiben.

Der Stadt Brackenheim wie auch der Stiftung Bundespräsident Theodor Heuss- Haus ist sehr zu danken, dass sie das Andenken an unseren großen Landsmann museal bewahrt, ihn als demokratisches Vorbild präsent halten und sein Bild in der Geschichte ständig aktualisieren.

Ich habe mir ja vorgenommen, mit Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, aus Anlass des  ganz besonderen Nationalfeiertags 2014 ein wenig nachzudenken über die Freiheit als Sinn von Politik.

Wenn man sich vornimmt öffentlich nachzudenken, vor allem über die eigene politische Praxis, ist es ratsam, sich an klugen Köpfen zu orientieren. Ich greife dann immer gerne zu der politischen Theoretikerin Hanna Arendt, einer Zeitgenossin von Theodor Heuss. Durch die Erfahrung der Vertreibung ins Exil hat sie sich grundlegend und konsequent über Freiheit und ihre Bedingungen auseinander gesetzt. Ihr Werk über totalitäre Herrschaft, die alle politischen Freiheiten zerstört, war epochal. Von ihr stammt der, beim ersten Lesen vielleicht etwas befremdlich klingende Satz:

„Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen – in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten“.

Wunder im politischen Raum? Ist das wirklich eine angemessene Erwartungshaltung?

Eine Erwartungshaltung, die ein aktiver Politiker auch noch befördern sollte?

Versuchen wir Politiker nicht, im Gegenteil, bei Bürgersprechstunden oder Diskussionsveranstaltungen den Menschen klarzumachen, dass sie eben gerade keine Wunder von uns erwarten können?

Und zwar deshalb nicht, weil in der Praxis des politischen Geschäfts viel eher das Wort von Max Weber gilt, den ich als einen weiteren politologischen Kronzeugen immer gerne zitiere:

„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“

Nehmen Sie als Beispiel des Bretterbohrens nur den Ausbau der Windkraft bei uns im Land:

Von Anfang an war es unser Ziel, im Jahr 2020 rund zehn Prozent der Energieerzeugung durch die Windkraft zu decken.

Doch drei ganze Jahre hat es gedauert, um auch nur die Grundlagen dafür zu schaffen.

Glauben Sie mir, meine Damen und Herren, da habe ich mir schon mehr als einmal  Wunder erhofft!

Aber gründliche Politik, die eine langjährige Gegnerschaft der Vorgängerregierungen gesetzlich und planungsrechtlich überwinden musste, die gegensätzliche Interessen wie Artenschutz, Landschaftsschutz, Anliegerinteressen etc. angemessen berücksichtigen will, braucht eben ihre Zeit.

Der politische Alltag besteht oft genug aus dem schwierigen, nicht selten langwierigen Aushandeln von Kompromissen, die mitunter auch schmerzhaft sein können.

Ist es für diesen, häufig genug unspektakulären politischen Alltag in einer Demokratie nicht geradezu gefährlich, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihn mit der Erwartung von Wundern konfrontieren?

Bei all diesen Überlegungen muss man sich natürlich zunächst klar machen, dass Wunder  nichts Alltägliches sein können.

Wenn wir also Hannah Arendts Satz mit Überlegungen zum politischen Alltagsgeschäft konfrontieren, muss das noch lange kein Widerspruch sein.

Und dann müssen wir uns fragen: Was meint sie eigentlich mit dem politischen Raum, in dem wir das Recht haben sollen, Wunder zu erwarten?

Hannah Arendt versteht darunter nämlich nicht in erster Linie Institutionen wie Regierung und Parlament.

Und deshalb zielt ihr Satz auch nicht nur auf Berufspolitikerinnen und –politiker, sondern eher auf die  Bürgerinnen und Bürger.

Der politische Raum ist bei ihr, in Anlehnung an die griechische polis, ein öffentlicher Raum, in dem Menschen miteinander reden und miteinander handeln…

…ein Raum, in dem ein politisches Anliegen vertreten und öffentlich zur Diskussion gestellt werden kann.

Denken Sie  an kommunale Orte, an Märkte, Plätze, an Bürgerversammlungen oder Stadtteilzentren.

Denken Sie an Bürgerinitiativen und Vereine, an Kirchen und Hochschulen.
Sie alle sind solche öffentlichen Orte der kritischen Reflexion in einer lebendigen Bürgergesellschaft.

Und genau hier setzt Hannah Arendts Gedanke an:

Wo immer Menschen die Freiheit haben – oder sich die Freiheit nehmen – gemeinsam zu handeln…

…wo immer sich Menschen hinter einer gemeinsamen Idee versammeln und versuchen, diese Idee in die Praxis umzusetzen…

…da ist auch das Unerwartete, das Unberechenbare, das ganz und gar Unwahrscheinliche möglich.

Wo Menschen in Freiheit handeln oder wo sie nach Freiheit streben, da können in der Tat Wunder vollbracht werden.

II. Das Wunder der Einheit

Tatsächlich ist der Anlass für unser heutiges Zusammentreffen, der Tag der Deutschen Einheit, ein eindrucksvoller Beleg dafür:

Mit allem hatte die SED gerechnet; aber nicht damit, dass Menschen mit Kerzen aus Kirchen kommen und sich zu Demonstrationszügen formieren.

Der Einsatz dieser Menschen aber hat ein unglaubliches Wunder bewirkt: nämlich den Fall der Mauer und die endgültige Zerstörung des Eisernen Vorhangs.

Ich habe großen Respekt vor dem Mut dieser Menschen, denn es war damals alles andere als klar, wie die Staats- und Parteiführung der DDR auf Demonstrationen reagieren würde.

Die Menschen in den Staaten des Ostblocks schafften, angetrieben von der Idee der Freiheit, eine Revolution auf friedliche Weise – wann hat es das schon einmal gegeben?

Sie haben das Tor aufgestoßen zu einer neuen Epoche in Europa, zu einer neuen Qualität europäischer Integration – ohne Feindbild, ohne tödliche Mauer, ohne Graben zwischen West und Ost.

Ein scheinbar unwiderstehlicher Siegeszug von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten schien damals seinen Anfang zu nehmen.

Im globalen Maßstab träumte mancher schon von einem „Ende der Geschichte". (Francis Fukuyama 1992)

Wir wissen heute natürlich – und lesen es jeden Tag in der Zeitung – dass es ganz so wunderbar dann doch nicht gekommen ist.

III. Die liberale Gesellschaft – ein Auslaufmodell?

Nach der ebenfalls wunderbaren Volkserhebung auf dem Maidan Platz,  macht uns der Ukraine-Konflikt nun auf schmerzhafte Weise bewusst, dass Krieg auch in Europa wieder ein Mittel der Politik ist und dass militärische Aktionen demokratische Wunder wieder rückgängig machen können.

So muss man  25 Jahre nach dem Mauerfall eine regelrechte Renaissance autoritärer Regime beobachten:

Denken Sie an Russland. Denken Sie an China. Denken Sie an die enttäuschten Hoffnungen des „Arabischen Frühlings“, die auf dem Tahrir-Platz, was so viel heißt wie Platz der Befreiung, in Kairo aufzublühen schien.

Und denken Sie an das brutale Terrorregime des sogenannten „Islamischen Staats“.

Es ist für uns alle unfassbar, dass sich offensichtlich auch im demokratischen  Deutschland geborene und aufgewachsene junge Männer von der Propaganda dieses Regimes begeistern lassen.

Wenn wir auf Europa schauen, so müssen wir feststellen, dass populistische Bewegungen, die den Wählern einfache Antworten auf die komplexen Fragen einer modernen Gesellschaft vorgaukeln, in vielen Ländern auf dem Vormarsch sind.

Und auch bei uns in Deutschland sind nach der friedlichen Revolution vor 25 Jahren längst nicht alle demokratischen Blütenträume gereift: Fremdenfeindlichkeit, Hass auf Nicht-Deutsche und nationalistische Mordanschläge schienen die mutigen demokratischen Aufbrüche zu widerlegen.

Bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen zum Beispiel lag die Wahlbeteiligung teilweise bei unter 50 Prozent, was vor allem die politischen Ränder gestärkt hat.

Was folgt aus alledem?

Verliert unser westliches Modell des Zusammenlebens, verliert die liberale Demokratie sowohl weltweit als auch bei uns zu Hause an Attraktivität?

Und was heißt es vor diesem Hintergrund, mit Hannah Arendt zu behaupten, dass der Sinn von Politik Freiheit ist?

Kommt uns nicht gerade der Sinn für diesen Sinn der Politik immer mehr abhanden?

IV. Pluralität und Unvollkommenheit: Die Ordnung der Demokratie

Bei nicht wenigen Menschen gilt es als chic, eine  schlechte Meinung von der Demokratie zu haben, umstandslos  alle Parteien in einen Topf zu werfen und grundsätzlich die Korrumpierbarkeit der Politiker zu unterstellen.

Alle Parteien seien gleich, sagen sie, und tun nichts für die kleinen Leute, die Wirtschaft, die Rentner, die Jugendlichen – je nachdem, zu welcher Gruppe diese Menschen gehören.

Wenn man dann mit ihnen diskutiert, stellt man schnell fest, dass sie in der Regel absolut  unerfüllbare Ansprüche an die Politik stellen, und zwar an jede Politik.

Nur deswegen erscheinen ihnen die Unterschiede zwischen den Parteien so vernachlässigbar.

Es sind sozusagen Allmachtsphantasien, die diese Menschen umtreiben.

Nicht nur als Christ sollte man aber wissen, dass es kein irdisches Paradies geben kann.

Alle Versuche, den Himmel auf Erden, die perfekte Gesellschaft, das ideale System oder dergleichen zu errichten, haben bisher nur zu Unfreiheit, Gewalt und unendlichem Leid geführt.

Unser Modell des freiheitlich demokratischen Zusammenlebens dagegen rechnet immer mit der Unvollkommenheit des Menschen.

Es lebt, wie die Germanistin Hannelore Schlaffer vor kurzem in der FAZ schrieb (07.08.2014), von der kritischen Beobachtung der Wirklichkeit und der permanenten Korrektur ihrer Unzulänglichkeiten.

Das klingt vielleicht auf den ersten Blick weniger attraktiv als eine Ideologie, die den Menschen gerne das Blaue vom Himmel verspricht.

Aber es ist die menschlichste Gesellschaftsform, die bislang ersonnen wurde.

Warum?

Die Demokratie ist die einzige Regierungsform, die der großen Verschiedenheit der Menschen gerecht wird.

Hannah Arendt hat einmal gesagt: „Grundlage aller Politik ist die Pluralität des Menschen.“

Kein Mensch ist wie der andere, wir sind alle verschieden und unterscheiden uns auch gerne voneinander.

Diese Pluralität nimmt in unserer modernen Gesellschaft immer weiter zu.

Die individuellen Lebensentwürfe der Einzelnen werden von der Gesellschaft zunehmend ernst genommen, und das ist auch gut so!

Die kulturellen Hintergründe werden immer bunter – auch das ist gut, macht es aber schwieriger, sich auf einen gemeinsamen Wertebestand zu verständigen. Die existentielle Frage, worin denn ein „gutes Leben“ besteht, wird völlig unterschiedlich beantwortet.

Das macht vielen Menschen heute Angst. Das ist einer der Gründe, warum sich manche Menschen nach einfachen Antworten sehnen.

Und die Populisten in aller Welt versprechen ihnen einfache Lösungen, ohne über deren Kosten und Risiken zu sprechen.

Einfache Antworten, die alle glücklich machen, kann es nicht geben.

Aber die Demokratie muss einen Rahmen schaffen, in dem sich diese Verschiedenheiten möglichst frei entfalten können.

In der Demokratie kann es nie nur einen Weg oder eine Lösung geben.

Es geht immer um Alternativen, meist sogar um mehrere Alternativen. Deswegen ist auch „alternativlos“ ein problematischer Begriff aus der Mottenkiste des Obrigkeitsstaates und eine  durch und durch undemokratische Wendung.

Dreigliedriges Schulsystem oder Zweisäulenmodell aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule?

An welchem Ort bauen wir die dringend nötige Vollzugsanstalt?

Und wie gehen wir angemessen mit den Flüchtlingen und Asylbewerbern um? Und so weiter und so fort.

Über solche Alternativen muss zwischen  Bürgergesellschaft und Politik auf Augenhöhe diskutiert werden können.

Die Demokratie eröffnet hier Räume, in denen der Austausch von Gründen und Gegengründen, von Handlungen und Alternativen stattfinden kann.

Denn Politik wird im Kern gemacht durch Miteinander-Reden und Miteinander-Handeln, durch Kommunikation und Kooperation.

Die staatlichen Institutionen haben dabei der Bürgerschaft gegenüber eine Bringschuld.

Und diese Bringschuld, Entscheidungs- und Freiheitsräume zu öffnen und zu erweitern, will meine Landesregierung mit ihrer Politik des Gehörtwerdens konsequent einlösen.

Und da Freiheit kein Geschenk der Regierung, sondern ein Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger ist, haben wir begonnen das Gehörtwerden in den Planungsprozessen zu formalisieren und festzuschreiben, etwa durch einen Planungsleitfaden für die Verwaltung.

Es geht dabei um Transparenz und Offenheit.

Transparenz bedeutet, dass die Verfahren überschaubar und nachvollziehbar sein müssen.

Offenheit bedeutet, dass sie dabei immer offen sein müssen für Alternativen.
In der Offenheit für Alternativen liegt der eigentliche Charme der Demokratie.

Der Vertrauensbruch mit den demokratischen Institutionen findet nämlich immer dann statt, wenn die Bürgerschaft den Eindruck hat, hinter den Kulissen sei sowieso schon alles entschieden.

Und wenn dieser Vertrauensbruch erst einmal da ist – wie bei Stuttgart 21 - dann ist er nur ganz schwer wieder zu kitten.

Offenheit und Transparenz, das ist die Bringschuld der Institutionen, die wir einzulösen versuchen.

Meine Damen und Herren, es gibt aber auch eine Bringschuld der Zivilgesellschaft, und die heißt: der Streit muss zivil, gewaltfrei und ohne Fanatismus geführt werden.

Nur wenn beide Seiten dieses einbringen, kann Demokratie gelingen.

Am Ende aller Verfahren aber - auch das muss jedem klar sein – muss eine Entscheidung stehen.

Und diejenigen, die letztlich entscheiden, sind die dafür vorgesehenen und gewählten Organe unserer Verfassung.

Je nach Zuständigkeit sind dies der Gemeinderat einer Kommune, der Landtag, der Bundestag oder, im Fall von direkter Demokratie, das Volk selbst.

Dabei gilt, wie immer in der Demokratie: Es entscheidet die Mehrheit und nicht die Wahrheit!

Auch deshalb ist für Fanatismus in demokratischen Auseinandersetzungen kein Platz.

Über Glaubensfragen und absolute Wahrheitsansprüche wird nämlich in der Politik überhaupt nicht verhandelt.

Glaubensfragen und letzte Wahrheiten  klammert der freiheitliche Staat gerade aus und garantiert seinen Bürgerinnen und Bürgern dafür Glaubensfreiheit und Minderheitenschutz.

Es entscheidet die Mehrheit und nicht die Wahrheit!

Die Mehrheit kann natürlich genauso irren wie die Minderheit. Und die Narren von heute können die Helden von morgen sein, aber sie können natürlich genauso die Obernarren von morgen sein; das lässt sich nie ganz genau im Voraus sagen.

Es ist aber auch nicht weiter dramatisch, weil in einer Demokratie die unterlegene Minderheit niemals ihrer Rechte beraubt werden darf.

In einem Zeitungsbeitrag habe ich einmal das schöne Bild gefunden, dass freiheitliche Demokratie nicht heißt: zehn Füchse und ein Hase stimmen darüber ab, was es zum Abendessen gibt...

...sondern Demokratie heißt, dass der Hase die Wahl anfechten kann, dass er Einspruchsrechte hat (Die Welt, 22.02.2013).

Und das Schöne an  der Demokratie ist ja gerade, dass Minderheiten  zu Mehrheiten werden können, auch wenn das manchmal ein paar Jahrzehnte  dauert, wie Sie an  der Geschichte meiner Partei in Baden-Württemberg und an meiner heutigen Funktion sehen können.…

V. Auf die Bürger kommt es an

Die demokratische Regierungsform ist also eine große, aber stets gefährdete zivilisatorische Errungenschaft.

Sie ist ein wertvolles Gut und will gehütet und gepflegt werden.

Dazu gehört, dass man als Bürgerin und Bürger aktiv an der Gestaltung seines eigenen Gemeinwesens teilnimmt, dass man sich einmischt, sich engagiert.

Die Demokratie kann letztlich wirklich nur den Rahmen schaffen für das freie Handeln der Individuen, durch das sie ihr Glück suchen und auch finden können.

Demokratie ist nicht selbst mit der Freiheit identisch, sondern sie ist nur eine sehr günstige Vorbedingung für die Freiheit des Bürgers, die Freiheit der Bürgerin.
Auch das meint Hannah Arendt mit dem Satz: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“

Die politische Freiheit ist nie garantiert, ist nie  durch demokratische Institutionen ein für allemal gegeben.

Vielmehr muss sie von den Bürgerinnen und Bürgern täglich neu mit Leben erfüllt werden.

Ein lebendiges Gemeinwesen braucht also Bürger, die mit ihrer Freiheit etwas anzufangen wissen. Einer Politik, deren Sinn darin besteht, Freiheit zu ermöglichen, muss es immer auch darum gehen, wie sie Menschen ermutigen und befähigen kann, sich in freier Verantwortung für die Gesellschaft zu engagieren.

Baden-Württemberg, das sage ich als „Landesvater“ nicht ohne Stolz, hat sich im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements immer schon in besonderer Weise hervorgetan.

Unsere Stärke liegt  nicht allein in unseren erfolgreichen Unternehmen und in unserer differenzierten Forschungs- und Wissenschaftslandschaft.

Die Stärke Baden-Württembergs liegt ganz entscheidend in seiner starken Zivilgesellschaft.

Diese Zivilgesellschaft macht sich überall dort bemerkbar, wo die Landsleute  nicht einfach nach dem Staat rufen, sondern wo sie die Gestaltung ihres Gemeinwesens ein Stück weit selbst in die Hand nehmen.

In Kirchen und Vereinen aller Art, ob sportlich, sozial, kulturell, ökologisch; in Bürgerinitiativen, in der Nachbarschaftshilfe und in Selbsthilfegruppen – überall sind Menschen ehrenamtlich aktiv.

Mit einem Anteil von 41 % aller Bürgerinnen und Bürger, die sich bürgerschaftlich engagieren, liegen wir hier bundesweit auf Platz eins.

Das ist in meinen Augen das eigentliche Pfund Baden-Württembergs. Derweil sagt die Prozentzahl noch nicht alles aus. Wenn sie unbedingt jemand für ein Ehrenamt brauchen, dann suchen sie nicht bei denen, die noch gar nichts machen. Fragen sie jemand, der schon fünf Ehrenämter hat, dann macht er auch noch das sechste dazu.

Hier, in diesen subsidiären Strukturen, entstehen die Werte, die unser Gemeinwesen tragen und unsere plurale Gesellschaft ausmachen und zusammenhalten.

Das zeigt sich ganz aktuell in der wunderbaren Bereitschaft der Menschen, sich für die vielen Flüchtlinge zu engagieren, die von den zahlreichen Krisenherden dieser Welt auch zu uns in Land kommen.

An vielen Orten haben sich bereits Flüchtlingsfreundeskreise gebildet, in denen Junge und Alte, Christen und Muslime, Menschen aus allen Bevölkerungsschichten für die Flüchtlinge dolmetschen, Deutsch-Kurse geben, Kleider verteilen, Kinder betreuen und vieles mehr.

Vor bald 70 Jahren, in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs sind Flüchtlingsströme aus dem deutschen Osten zu uns nach Württemberg und Baden gekommen. Darunter war auch meine aus Ostpreußen stammende Familie. Das war der Beginn einer Geschichte von gelungenen Integration.

Und vor 25 Jahren kamen die Flüchtlinge aus der damaligen DDR zu uns, erst über Ungarn und die Tschechische Republik und nach dem Fall der Mauer in großer Zahl. Wir konnten die Geschichte gelingender Integration bei uns fortsetzen.

Sie alle haben ihre alte Heimat verloren und eine neue Heimat gefunden.

Und gerade, weil ich mich persönlich an der Wertschätzung von Heimat ungern von irgendjemandem übertreffen lassen will, stelle ich fest: Heimat muss offen sein für heimatlos Gewordene. Das ist ein ethischer und humanitärer Grundsatz, der in einem selbstbewußten Heimatland wohl am allerbesten zu verwirklichen ist.

Ich bin den Fraktionen im Landtag von Baden-Württemberg dankbar, dass darüber weitgehende Einigkeit besteht. Das war Anfang der 90-er Jahre bei der Aufnahme der bosnischen Kriegsflüchtlinge leider nicht der Fall.

Natürlich sind in erster Linie Bund und Land in der Pflicht, die Kommunen bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge angemessen zu unterstützen.

Aber die grundlegende ethische Frage, ob wir auch wirklich genug tun, um die Menschen aus Syrien oder dem Irak aufzunehmen, die dem apokalyptischen Morden entgangen sind, die muss die Gesellschaft entscheiden. Am besten fängt mit dieser Frage jeder bei sich selbst an. Ich fürchte, dass es angesichts des unvorstellbaren Elends immer zu wenig sein wird.

Und an die Landesregierung werden zahlreiche weitere unabweisbare Forderungen herangetragen. VERDI forderte eben 20.600 zusätzliche Stellen für eine vernünftige Altenpflege, zum Schutz des Weltklimas sollten wir viel mehr tun,  auch für die Kinderbetreuung, …

… den Bildungsbereich oder die  Verkehrsinfrastruktur.

Ich will damit nur sagen, dass wir auch die Bedingungen unserer Gastfreundschaft abwägen müssen, dass ich sie abwägen muss. Ich habe das getan. Ich habe dem Kompromiss im Bundesrat zugestimmt, die faktischen Lebensbedingungen der Flüchtlinge bei uns zu verbessern und das Verfahren für Asylbewerber zu verkürzen, die aus weiteren sogenannten sicheren Herkunftsländern kommen. Uns allen ist klar, dass das natürlich ein problematischer Begriff ist. Dass Roma dort und auch in einigen EU-Ländern diskriminiert werden, ist unbestritten. Hier ist die EU gefordert.

Das Recht auf Asyl vor politischer Verfolgung bleibt selbstverständlich gewahrt und ist nicht quantitativ beschränkt. Aber verantwortungsvolle Politik muss Sorge tragen, dass unsere Kommunen ihre wichtige Aufgabe der Aufnahme und Integration dieser Menschen besser erfüllen und nicht überfordert werden.

Gewalttaten gegen Flüchtlinge, wie sie in Nordrhein-Westfalen vorkamen, dürfen nicht geduldet werden und wir werden alles in unserer Macht stehende tun, dass so etwas bei uns nicht geschieht. Wiewohl wir auch nie Fehlverhalten Einzelner ausschließen können. Angesichts der Konflikte in aller Welt wird diese Aufgabe Dimensionen annehmen, die wir heute noch gar nicht richtig abschätzen können.

Das Asylrecht ist kein geeignetes Instrument und sieht das auch nicht vor, die in vielen Ländern herrschende Armut zu lindern. Das heißt aber keineswegs, dass uns Armut und Elend jenseits der Grenzen gleichgültig lassen darf. Die Landesregierung bereitet derzeit intensiv  Unterstützungsprogramme vor, die Minderheiten in den Ländern helfen soll, für die wir jetzt das Asylverfahren verkürzt haben.

Den Flüchtlingsorganisationen, die meine Entscheidung im Bundesrat  teilweise mit Skepsis und harscher Ablehnung kommentiert haben, kann ich versprechen alles zu tun, an dem Prinzip eines weltoffenen und gastfreundlichen Heimatlandes Baden-Württemberg festzuhalten. Die Initiativen, die künftigen Nachbarn der Flüchtlinge und die Kommunen bitte ich dabei herzlich und eindringlich um tätige Mithilfe.

VI. Die Stärkung der Bürgergesellschaft

Das  ehrenamtliche Engagement bei uns im Land hat eine gute Tradition.

Doch es stellt sich die Frage: Wird das auch in Zukunft so bleiben?

Und was können wir tun, dass es so bleibt?

Es gibt Tendenzen, die dem entgegenlaufen: Mit der zunehmenden Mobilität ist dauerhaftes Engagement schwieriger geworden.

Aufgrund der Globalisierung haben wir oft den Eindruck, dass das, was wir tun, gar nicht mehr wirksam ist.

Viele haben auch den Eindruck, dass "die da oben ja doch machen, was sie wollen".

Dann gibt es auch kritische Politologen die meinen, es würden ja immer nur dieselben Bürger beteiligt und tätig. Und immer dieselben blieben von Beteiligungsprozessen ausgeschlossen und gingen auch nicht zur Wahl.

Unserer Ansicht nach spricht das noch lange nicht gegen Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung, sondern für deren Verbesserung. Gisela Erler, unsere Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung ist mit großem Engagement dabei, auch solche Menschen systematisch für Beteiligungsprozesse zu interessieren und einzubinden, die seither noch abseits standen - aus welchen Gründen auch immer.

Auf der anderen Seite ist die Spenden- und Hilfsbereitschaft bei Katastrophen aller Art im bürgerlichen Alltag nach meiner Beobachtung sehr viel höher als früher.

Wie dem auch sei: Es war an uns, die Teilhabe-möglichkeiten der Bürgerschaft zu erweitern und subsidiäre Strukturen zu stärken und die Landesregierung hat das zu ihrem Schwerpunkt gemacht.

Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, dann ist es die vornehmliche Aufgabe des Staates, Freiheit und Verantwortung der unteren Ebenen zu ermöglichen - von der kommunalen Selbstverwaltung über den Föderalismus bis hin zu den verschiedenen Gemeinschaften, die wir haben.

Dass diese  freie Verantwortung  überall im Land  lebendig wahrgenommen wird, kann ich am Beispiel der Genossenschaft belegen: Das alte Kernprinzip der Genossenschaft, ist demokratisch und subsidiär. In einer Weinbaugemeinde muss ich den Vorteil von Genossenschaften nicht weiter erklären!

Bei der Energiewende stellen wir fest, dass Energiegenossenschaften wie Pilze aus dem Boden schießen.

Über 40 Energiegenossenschaften wurden allein im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg neu gegründet.

Hier zeigt sich, wie durch bürgerschaftliches Engagement die Sache der Energiewende und des Klimaschutzes vorangetrieben wird, während  internationale Konferenzen, wie zuletzt die UN-Klimakonferenz in New York, nur wenige konkrete Fortschritte bringen.

Die Rolle der Bürgergesellschaft bleibt  also auch in diesem Politikbereich  entscheidend.

Am Rande der wichtigen Konferenz in New York hat die bekannte  Globalisierungskritikerin und Soziologin Naomi Klein ein neues Buch vorgelegt. Sie beschreibt drastisch, warum der Klimaschutz jetzt sofort greifen muss, um die weitere Erwärmung der Atmosphäre auf 2 Grad zu beschränkenden. Worin man ihr völlig recht geben muss.

Sie ruft dazu auf, einerseits den Hyperindividualismus zu überwinden und andererseits den Hyperkapitalismus. Der Untertitel ihres Buchs lautet: „Kapitalismus gegen das Klima“.

Doch auch ihre Hoffnung ruht allein auf dem Druck der Bürgerschaft von unten, der Regierungen zwingen kann, der Wirtschaft Leitlinien vorzuschreiben, die zur Rettung des Klimas beitragen. Womit wir wieder bei Hannah Arendts Wunder wären, „Privat oder Staat“ ist also eine verkürzte Fragestellung. Es geht vielmehr darum, das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft immer wieder neu zu justieren. Und bei diesem politischen Tun sind wir tatsächlich auf den Aufwind angewiesen, der von unten her weht.

Auch Konsumenten verhalten sich immer mehr als Markt-Bürger, die nicht nur wie bisher auf den Preis und die Qualität achten, sondern auch auf die sozialen und ökologische Produktionsbedingungen unter denen etwas hergestellt wurde.

Verbraucher verhalten sich zugleich als Bürger, denken an ihre Gesundheit und an das Allgemeinwohl.

Das erklärt den Erfolg von Waren mit verschiedenen Nachhaltigkeits- Labeln oder -Siegeln. Z.B. das Fair-Trade-Siegel, dass längst aus der Nische herausgekommen ist.

Der Staat muss hier jetzt für die richtigen Rahmenbedingungen, also sprich für Transparenz sorgen, damit der Verbraucher auch tatsächlich eine informierte Entscheidung treffen kann.

Aber auch bei den Unternehmern, gerade bei uns im Land, gibt es mehr und mehr Menschen, die als Sozialunternehmer Unternehmertum mit bürgerschaftlichen Anliegen kombinieren.

Und auch hier kann der Staat durch Rahmenbedingungen unterstützend tätig werden.

Deshalb war es zum Beispiel richtig, dieser Form des Unternehmertums mit der gemeinnützigen GmbH und der gemeinnützigen AG neue Organisationsformen zur Verfügung zu stellen (2013).

Was den von Naomi Klein geforderten grundlegende Systemwandel unserer kapitalistischen Produktion anbetrifft, müsste die Landesregierung Sie enttäuschen. Aber eine soziale, und erweitert eine ökosoziale Marktwirtschaft ist immer auf dem Weg, den Kapitalismus so einzuhegen, dass der Wettbewerb in eine Richtung geht, der menschen- und umweltfreundlich bleibt. Also Wettbewerb in einem ordoliberalen Rahmen. Das am Beispiel meines Dienstwagens: Das Fahrzeug, eine Mercedes S-Klasse, das ich von meinem Amtsvorgänger im Jahr 2011 übernommen habe hatte eine CO2-Emission von 340 g/km. Mein derzeitiges Dienstfahrzeug hat einen CO2-Ausstoß von lediglich 115 g/km. Also nur noch rund ein Drittel der Emissionen des Fahrzeugs meines Vorgängers. Und das nächste Fahrzeug, eine Mercedes S-Klasse Plug-Hybrid das ich voraussichtlich Ende des Jahres übernehmen werde, wird sogar unter 70 g/km emittieren.

So habe ich die berechtigte Hoffnung, dass die Wirtschaft unseres Bundeslandes ihre Anstrengungen für eine umweltgerechte Produktion noch weiter verstärkt. Ich hoffe das nicht nur: Wir unterstützen das auch vielfach, zum Beispiel durch die Landesagentur für Umwelttechnik oder Leichtbau, die vom Wirtschaft- und Wissenschaftsministerium getragen wird. Ich weiß, dass in unserem Bundesland intensiver als in anderen an Zukunftsfabriken gearbeitet wird, die dann zu dem Modell der Industrie 4.0 führen sollen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der Tag der Deutschen Einheit ist ein bedeutender politischer Feiertag. Am 3.Oktober 1990 ist die DDR der Bundesrepublik beigetreten. Das ist das bleibende Verdienst unserer ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und das gibt uns Mut in einer Welt, in der gerade die Separatisten und die Invasoren den Ton angeben.

Das gibt uns auch den Mut, die anstehenden Aufgaben zuversichtlich anzugehen.

Ich hoffe dass ich Ihnen deutlich machen konnte, dass mir dabei Ihre bürgerschaftliche Aktivität kein politisches Ornament, sondern die grundlegende Voraussetzung gelingenden Regierungshandelns ist. Der Sinn und das Ziel aller Politik ist die Freiheit. Und die Hauptpersonen sind all die, meine Damen und Herren, die sie sich, wie Sie, aktiv in das öffentliche Leben einbringen.

Lassen Sie uns gemeinsam die Wertschätzung zivilgesellschaftlicher Verantwortung weitertragen, die sich durchaus in die Tradition der zivilen Haltung von Theodor Heuss stellen kann.

Haben Sie vielen Dank!

(Es gilt das gesprochene Wort!)

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