Interview

„Wir wollen den emissionsfreien Verkehr“

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Bild: © dpa)

Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bekennt sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Wandel hin zur emissionsfreien Mobilität. Statt über Termine zu streiten, müsse man nun endlich die Mobilitätswende in Gang setzen und auch dafür sorgen, dass unser Strom sauberer wird.

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Herr Ministerpräsident, muss man sich angesichts der Diesel-Debatte nicht fragen, ob die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie an unüberwindliche Grenzen stößt?

Winfried Kretschmann: Nein, das Thema findet nun wirklich immer breitere Akzeptanz, auch in Wirtschaftskreisen. Aber richtig ist, die ganze Debatte hat etwas Rückschrittliches. Anstatt kraftvoll die Transformation unserer Automobilindustrie in Angriff zu nehmen, sind wir gezwungen, uns mit deren Verfehlungen zu beschäftigen. Der Kern des Problems ist nicht allein der Betrug der Autoindustrie. Das Problem ist, dass neun von zehn Euro-6-Diesel, von denen wir dachten, sie seien alle sauber, in Wahrheit schmutzig sind. Dass wirkliche Abgaswerte teilweise fünfzehnfach vom Testbetrieb abweichen, das zeigt das Versagen der Autoindustrie, aber auch der Politik im Bund und der EU. Jetzt sitzen uns die Gerichte im Nacken, gleichzeitig sollen wir die Grenzwerte ohne Fahrverbote einhalten. Das grenzt an die Quadratur des Kreises.

Hat der zweite Diesel-Gipfel Anfang dieser Woche, dieses Mal im Kanzleramt, also nichts gebracht?

Kretschmann: Ich muss ganz ehrlich sagen: Diese „Gipfel“ gehen mir auf den Zeiger. Mit der Dynamik, die in der Entwicklung steckt, können wir mit solchen Formaten nicht Schritt halten. Außerdem sind die Gipfel der Bundesregierung in der Regel schlecht vorbereitet. Der erste Gipfel war nicht besser. Aber wenigstens hat es am Montag dazu geführt, dass die beteiligten Städte ihre Vision vom Stadtverkehr präsentieren konnten. So kommen wir wenigstens auf einer Seitenlinie dieser Altlast-Debatte weiter.

Die Industrie mauert bei neuen Techniken

Machen Sie es in Baden-Württemberg denn anders?

Kretschmann: Wir haben einen Strategie-Dialog für die nächsten sieben Jahre institutionalisiert. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kommunen sollen sich gegenseitig die Augen öffnen, was auf uns zukommt und was wir machen müssen. Da soll alles auf den Tisch. Wir haben eine unserer Landesagenturen, die e-mobil BW, damit beauftragt, den Prozess zu koordinieren. Das soll auch dazu beitragen, dass wir als Staat gegenüber Lobbygruppen neutral bleiben.

Sie werfen der Autoindustrie vor zu „mauern“. Wo mauert die Industrie?

Kretschmann: Sie mauert immer dann, wenn es darum geht, neue Techniken zu fördern. Das war beim bleifreien Benzin so, beim Katalysator, jetzt ist es wieder so. Es wird immer gleich vom Tod des Autos gesprochen. Deshalb hinkt die deutsche Automobilindustrie der Entwicklung jetzt schon ein, zwei Jahre hinterher. Zwischen Tesla und den chinesischen Elektromobilquoten sind wir in der Zange. Das Auto wird in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren neu erfunden. Emissionsfreie Mobilität, Automatisierung, Share-Economy und Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger sind die Themen. Damit geht ein kultureller Wandel einher. Die junge Generation baut ein ganz anderes Verhältnis zum Auto auf, als wir Alten das noch haben, pragmatischer, nicht so statusfixiert.

Wir müssen pausenlos am Ball bleiben

Sie haben sich dagegen ausgesprochen, dem Verbrennungsmotor ein Zeitlimit zu setzen. Warum?

Kretschmann: Die 2030, die meine Partei gesetzt hat, war zweifellos ein Weckruf, insofern war das durchaus von Belang. Und irgendwann werden wir so eine Deadline auch setzen können, ich halte es hier und heute jedoch für zu früh. Wenn ich eine ordnungspolitische Vorgabe mache, muss das eine eindeutige Grundlage haben. Wohin wir uns entwickeln und wie schnell, wissen wir zurzeit noch nicht.

Ich gehe einen anderen Weg. Wir müssen pausenlos am Ball bleiben und alle mit offenen Karten spielen, auch und vor allem die Autoindustrie. Wir müssen etwas in Gang setzen und uns nicht über Termine streiten.
Quoten, wie sie Martin Schulz vorschlägt, kann ich mir auch schwer vorstellen. Wir leben schließlich in einer Marktwirtschaft. Auf was es ankommt, sind Grenzwerte. Das ist ein Instrument, das lenkt und zugleich Technologieoffenheit gewährleistet. Die Grünen machen dennoch Wahlkampf mit dem Ausstieg im Jahr 2030. Wir wollen ja alle, dass es schnell geht.

Wenn Horst Seehofer eine Obergrenze für den Verbrennungsmotor ablehnt, ist das also kein Grund, eine Koalition scheitern zu lassen?

Kretschmann: Das ist doch alles Wahlkampfgeklingel.

Dienen Grenzwerte aber nicht auch zur Verdrängung des Autos? Gibt es unter den Städten, die am Montag dabei waren, eine einzige, die irgendwann ganz autofrei sein möchte?

Kretschmann: Nein. Aber alle wollen weniger Autos. Als ich noch gar nicht Ministerpräsident war, da habe ich das auch so gesagt: Weniger Autos sind besser. Da gab es eine Debatte, die ein Jahr lang dauerte. Ich war mir mit der Automobilindustrie aber schon damals schnell einig: Wir wollen den emissionsfreien Verkehr. 

Wir können die Probleme nicht ohne das Fahrrad lösen

Wird das Fahrrad dadurch zum größten Konkurrenten des Autos?

Kretschmann: Es wird immer mehr zu einem wichtigen Verkehrsträger. Auch das Fahrrad wird derzeit neu erfunden. Nicht nur, weil es elektrifiziert wird. Alles, was wir am Auto erlebt haben, wandert jetzt in die Fahrradwelt: vom Design über ABS-Bremsen bis hin zum Helm, der zum Kommunikationszentrum wird. Wir werden die Probleme gar nicht lösen ohne Fahrrad.

Sie haben sich für die Blaue Plakette ausgesprochen. Lassen sich Fahrverbote also nicht vermeiden?

Kretschmann: Das wären nur Fahrverbote in einer Restform. Denn Verbote kämen erst im Jahr 2020. Dann sehen die Luftreinhaltepläne schon jetzt einen Durchdringungsgrad von Euro 6-Dieselautos von achtzig Prozent vor. Wenn bis dahin auch noch die Kaufprämien greifen, kommen wir auf kleine Restgrößen. Das ist besser, als wenn uns die Gerichte jetzt zu allgemeinen Fahrverboten zwingen, weil wir ihnen keine greifbaren Maßnahmen bieten können. Dann droht uns ein Chaos. Die Blaue Plakette wäre ein Technologietreiber und eine planbare Ansage an Industrie und Verbraucher, auf die sie sich einstellen können.

Die Ablehnung der Blauen Plakette ist nicht nachvollziehbar

Es wäre also vor allem ein Signal an die Gerichte?

Kretschmann: Auch. Diese Gipfel wie der am Montag bringen keine gerichtsfesten Entscheidungen. Die Blaue Plakette ist ein effektives Mittel, weil es rechtssicher ist. Damit kann der Richter dann auch wirklich umgehen. Die Blaue Plakette ist außerdem nur eine Ermächtigung, die Städte können sie anwenden oder es lassen. Es ist sehr bedauerlich und für mich auch nicht nachvollziehbar, dass SPD und Union im Bund die Blaue Plakette, zumindest derzeit noch, harsch ablehnen.

Als erster Schritt wird von einigen Oberbürgermeistern nun gesagt, sie wollen ihre Diesel-Bus-Flotte umstellen. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter sagt, die Umstellung brächte nur vier Prozent weniger Emissionen. Ist dieser Schritt also so sinnvoll?

Kretschmann: Siebzig Prozent der Emissionen in den Städten kommen aus den Diesel-Pkw. Boris Palmer, Tübingens Oberbürgermeister, hat den guten Vorschlag gemacht, dass es effektiver sein könnte, Zuschüsse für Elektro-Bikes zu geben. Aber auch die Software-Updates für Diesel-Pkw bringen mehr, als viele vermuten. Die Autoindustrie sagt 30 Prozent bessere Werte im Schnitt zu. Bei Diesel-6-Modellen sind die Effekte noch größer. Daran werden wir sie natürlich auch messen!

Für eine andere Art der Mobilität in der Stadt sind das aber alles richtige Maßnahmen. Ein Problem ist, dass es gar keine deutschen Elektro-Busse gibt. Da haben die deutschen Hersteller etwas verschlafen. Das ist ein Drama. Sie holen auf, aber es dauert eben noch ein, zwei Jahre.

Wir müssen aus der Stromerzeugung mit Kohle aussteigen

Könnten Sie als Ministerpräsident mit einem Tesla herumfahren?

Kretschmann: Nein, was wäre denn das für ein Signal? Aber ich würde mir wünschen, dass ich bald als Ministerpräsident emissionsfrei mit einem baden-württembergischen Auto fahren kann.

Das E-Auto gilt plötzlich als das Allheilmittel. Dabei ist die Technik noch gar nicht ausgereift. Und was machen wir mit den Batterien? Das ist Sondermüll. Brauchen wir ein Endlager?

Kretschmann: Natürlich muss parallel eine Recyclingwirtschaft aufgebaut werden. Aber das sind alles Gründe, warum man jetzt noch kein Datum für das Ende des fossilen Verbrennungsmotors benennen kann. Im Überschwang der Gefühle sollten wir nicht den dritten Schritt vor dem ersten machen. Nicht jeder Strom, der E-Autos fahren lässt, ist außerdem sauber. Dass wir in die emissionsfreie Mobilität kommen müssen, ist klar.

Aber ebenso wichtig, und schneller erreichbar ist der Ausstieg aus der Erzeugung von Kohlestrom. Das größte Braunkohlekraftwerk Deutschlands stößt so viel CO2 aus wie mindestens zwölf Millionen Kraftfahrzeuge. Die 20 Kohlekraftwerke, die wir Grüne abschalten wollen, entsprechen 37 Millionen Kraftfahrzeugen. Bei der Transformation in der Autoindustrie ist es die Aufgabe der Politik, dass dieser Prozess, in dem wir uns befinden, ohne Verwerfungen stattfindet. Das ist mir wichtig. Schließlich bin ich der Regierungschef eines Automobil-Landes.

Da ist mir schon etwas mulmig

Ist den Verbrauchern das Tempo aber möglicherweise zu hoch?

Kretschmann: Es muss Tempo rein. Das Tempo ist eher ökonomisch generiert. Aber man kann auch überrollt werden. Die größte Gefahr ist, es geht einem gut und man schläft. Wenn man gute Produkte macht, denkt man: Was soll uns passieren? Da ist mir schon etwas mulmig.

Gibt es in der Diskussion um den Diesel nicht auch hysterische Züge? Immerhin ist die Luftqualität in den vergangenen 30 Jahren doch besser geworden.

Kretschmann: Die Luft wird immer besser. Nur eben nicht schnell genug. Die EU macht klare und ambitionierte Vorgaben, auf der anderen Seite aber Gesetze für die Automobilindustrie, die das Erreichen dieser Vorgaben untergraben – unter tätiger Mithilfe der Bundesregierung. Denken Sie an die berüchtigten Thermofenster oder die Messung der Werte auf der Rolle. Das geht einfach nicht. Die Menschen legen heute einen sehr, sehr großen Wert auf eine gesunde Umwelt. Darum müssen wir das ernst nehmen. Aber natürlich hyperventiliert die Debatte etwas.

Die deutschen Automobilhersteller beteiligen sich am ersten Teil des Mobilitätsfonds mit 250 Millionen Euro. Wollen Sie, dass sich die Unternehmen auch am zweiten Teil des Fonds beteiligen?

Kretschmann: Ja. Sie haben uns das Problem eingebrockt. Sie sollten sich auch an der Fehlerkorrektur beteiligen. Das sind ja immer noch relativ bescheidene Größen. Es ist auch im wohlverstandenen Eigeninteresse.

Die SPD fordert nun Musterklagen gegen Autohersteller ähnlich wie in Amerika. Wollen Sie das auch?

Kretschmann: Ich bin da skeptisch. Die Amerikaner haben eine haftungsrechtliche Tradition, wir haben eine ordnungspolitische Tradition. Beides hat Vor- und Nachteile. Wichtig ist doch, dass unsere ordnungsrechtlichen Vorgaben auch eingehalten werden, dass sie stimulieren und nicht strangulieren. Das hat sich bewährt.

Das Gespräch mit MinisterpräsidentWinfried Kretschmann führten Jaspervon Altenbockum und Mona Jaeger.

Quelle:

Das Interview ist am 8. September in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erschienen.
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