Interview

„Wir dürfen uns nicht abhängen lassen“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der Jahresveranstaltung zum Strategiedialog Automobilwirtschaft BW (Foto: © e-mobil BW / Studio KD Busch)

Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung erklärt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, wie er das Autoland Baden-Württemberg in die Zukunft der Mobilität führen will. Er lobt die Start-up-Kultur des Landes und fordert, die Organisations- und Kommunikationsformate der Politik zu überdenken. Wie beim Strategiedialog der Landesregierung brauche es den permanenten Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik.

Herr Kretschmann, wer sich bei den Managern aus der Auto- und Zuliefererindustrie danach erkundigt, von welchem Politiker sie sich am besten verstanden fühlen, hört auffällig häufig Ihren Namen. Ist das ein Kompliment oder ein Problem?

Winfried Kretschmann: Das fasse ich als Kompliment auf – auch, wenn manchen mein Verhältnis zu den Wirtschaftsvertretern zu eng sein mag. Nehmen Sie nur mal die Mobilität: Entwicklungen wie die Digitalisierung und die Elektrifizierung mischen die Branche derart auf, dass wir nur gemeinsam Lösungen entwickeln können. Bei diesen Themen ist nichts wichtiger als die Vernetzung, und dazu gehören eben auch Plattformen wie der Strategiedialog Automobilwirtschaft, den ich letztes Jahr ins Leben gerufen habe. Hier ist eine sehr dichte Kommunikation aller relevanten Akteure möglich.

Inwiefern riskieren Sie durch die Zusammenarbeit mit den Vertretern aus der Branche inzwischen auch Ihren Ruf, wenn Sie bei Veranstaltungen wie dem Strategiedialog den Schulterschluss mit den Managern üben, ohne zu wissen, ob auch den baden-württembergischen Herstellern noch Betrug bei den Abgaswerten nachgewiesen werden kann?

Kretschmann: Ehrlich, solche Gedanken mache ich mir nicht. Ich will es mal so sagen: Ich habe spätestens bei meiner Reise ins Silicon Valley gemerkt, dass uns unsere Fehlervermeidungskultur nicht weiterbringt. In der Politik ist der Anreiz, Fehler zu vermeiden, um ein Vielfaches größer als der Antrieb, eine Innovation hervorzubringen. Vielleicht stellt sich die enge Zusammenarbeit mit der Autoindustrie eines Tages als Fehler heraus. Aber es ist trotzdem besser zusammenzuarbeiten, als nichts zu tun und dadurch Zukunftschancen zu verpassen. Die Autoindustrie stellt schließlich das Rückgrat unserer Wirtschaft dar. Hunderttausende Menschen leben von der Branche. Da geht es um unglaublich viel.

Baden-Württemberg ist ein attraktiver Standort

Sind die Interessen der Autoindustrie und der Landespolitik überhaupt deckungsgleich? Ihnen geht es darum, dass Baden-Württemberg das wichtigste Autoland bleibt und dass die Jobs nicht verloren gehen. Die Autohersteller sind global aufgestellt. Ihnen ist es doch egal, wo sie ihre Innovationen entwickeln und ihre Wertschöpfung generieren.

Kretschmann: Das stimmt, und ich bin dankbar, dass beispielsweise Porsche gerade einen Milliardenbetrag in den Ausbau seiner Kapazitäten in Zuffenhausen steckt, denn das Geld könnte das Unternehmen tatsächlich auch woanders investieren. Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass Baden-Württemberg ein attraktiver Standort ist. Wir haben hier im Land eine breite Wissenschaftslandschaft, hochqualifiziertes Personal und eine sehr potente, technologieoffene Kundschaft. Porsche stellt ja Produkte her, ohne die man zur Not auch leben könnte. Einen 911er braucht man nicht zwingend für den täglichen Bedarf. Insofern spielt auch die Kaufkraft der Menschen eine Rolle.

Außerdem bemühen wir uns schon, den Unternehmen entgegenzukommen, indem wir gute Rahmenbedingungen schaffen. Denn wir als Land profitieren von den Konzernen nicht nur in Form von Arbeitsplätzen. Die Investitionen bei Porsche gehen voll in die Elektromobilität – und wenn selbst unsere Sportwagen künftig grün sind, ist das schon eine sehr starke Botschaft, die von Baden-Württemberg aus in die Welt geht. Gleiches gilt für Daimler, Audi, Bosch und viele andere Unternehmen.

Zu den Rahmenbedingungen gehört aber auch, dass ein Land sowohl im Hinblick auf die Infrastruktur als auch auf die Kompetenz und Offenheit von pädagogischem Personal, Fachkräften und Zivilgesellschaft bereit für die Digitalisierung ist. Hier stellt die Autoindustrie dem Land sehr schlechte Noten aus. Wie wollen Sie das ändern?

Kretschmann: Mir wäre auch lieber, wenn es uns gelänge, die Menschen und Firmen im Land rascher mit schnellem Internet und dem neuen Mobilfunkstandard 5G zu versorgen, den man zum autonomen Fahren braucht. Am Geld liegt es nicht, wir können aber derzeit nicht so viel verbauen, wie wir finanzieren könnten. Die Baufirmen sind gerade einfach heillos überlastet. Und was die flächendeckende Versorgung mit 5G betrifft, will ich nicht verschweigen, dass dabei auch auf die Bevölkerung noch einiges zukommen wird. Denn klar ist: Wir werden dafür wesentlich mehr Sendemasten benötigen als heute. Da wir Grünen aus der kritischen Bevölkerung kommen, haben wir aber eine große Erfahrung damit, die Menschen mitzunehmen. Insofern bin ich sicher, dass wir bei der digitalen Infrastruktur den Anschluss schaffen werden. Und manche Vorwürfe zur Innovationsfähigkeit des Landes muss ich auch schlicht zurückweisen.

Wir sind mit unseren Start-ups inzwischen sichtbar geworden

Welche meinen Sie?

Kretschmann: Beispielsweise den Vorwurf, dass es in Baden-Württemberg keine vitale Start-up-Kultur gibt. Allein in den letzten zwei Jahren hat sich am Standort so viel getan, da verwahre ich mich gegen die Verfestigung eines Vorwurfs, der mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Wir sind mit unseren Start-ups inzwischen sichtbar geworden, wir ziehen Talente an, und auch die etablierten Firmen sind immer noch weltweit die Innovationstreiber. Was ich beim jüngsten Treffen im Rahmen des Strategiedialogs erlebt habe, war eine regelrechte Innovationsorgie. Gleichzeitig vertreten wir hier in Baden-Württemberg aber auch bestimmte Werte. Es gibt berechenbare und stabile Rahmenbedingungen. Das ist auch wichtig. Was bringt einem das größte Silicon Valley, wenn man Donald Trump als Präsident hat?

Stimmt, Stabilität ist wichtig – sie kann aber auch zur Verkrustung führen. Zum Beispiel im Bildungssystem. Wie kann die Jugend auf dem Weg in die digitale Zukunft mitgenommen werden?

Kretschmann: Die Digitalisierung des Bildungssystems ist in der Tat die größte Herausforderung, vor der wir stehen. In der Bildung ist Stabilität zwingend notwendig. In den Schulen kann man mit zu schnellen und sprunghaften Entwicklungen sehr viel Schaden anrichten. Dort haben wir noch einen langen Weg vor uns, und ich kann gerade nicht erkennen, in welche Richtung die Bundesregierung dabei marschieren will.

Ihr Digitalpakt etwa ist eine totale Katastrophe. Erst war die Rede von fünf Milliarden Euro für die Länder, inzwischen sind das noch 3,5 Milliarden Euro, um die Schulen für die Digitalisierung fit zu machen. Das hört sich immer noch nach viel Geld an. Aber wenn Sie das mal umrechnen auf die Schulen im Land, dann kann man vielleicht eine Klasse pro Schule mit Tablets ausstatten – was soll denn das bringen? Wir brauchen doch eine digitale Pädagogik und nicht nur Tablets. Darum bin ich froh, dass die Autofirmen uns dabei jetzt unterstützen und ein Bündnis für die digitale Bildung entwickeln, bei dem pädagogisches Personal direkt bei den Unternehmen geschult wird.

Politik muss ihre Organisations- und Kommunikationsformate überdenken

Müsste nicht auch der ein oder andere Politiker zur Nachhilfe in die Firmen gehen?

Kretschmann: Richtig ist, dass wir in der Politik bislang zu wenig Formate für vernetztes Denken haben. Die traditionellen Unternehmen werden durch die Start-ups getrieben und haben ihre Organisationsstrukturen in den vergangenen Jahren stark verändert. Sie sind heute wendiger und können viel schneller reagieren. Wir in der Politik dagegen sind immer noch in unseren Ressorts verhaftet und werden nicht von Innovatoren getrieben. Das lähmt uns.

Bei was?

Kretschmann: Die Politik müsste ihre Organisations- und Kommunikationsformate überdenken. Wir müssen mehr projektorientiert arbeiten und nicht im eher starren Ressortdenken stecken bleiben. Wir haben in Baden-Württemberg damit begonnen. Ich bin wirklich froh, dass mir das Konzept des Strategiedialogs eingefallen ist, das es bis dahin nicht gab. Bislang haben wir in der Politik immer nur Gipfel veranstaltet, an die sich zwei Wochen später keiner mehr erinnert hat. Der Strategiedialog hingegen ist auf sieben Jahre angelegt und besteht aus einem permanenten Austausch zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Von meiner Landesregierung sind neben dem Staatsministerium weitere fünf Ministerien beteiligt.

Nun wäre es höchste Zeit, dass auch auf Bundesebene ein Strategiedialog nach baden-württembergischem Vorbild etabliert wird. Denn die Demokratie muss jetzt beweisen, dass sie mit dem hohen Tempo von planwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften wie China mithalten kann, wo die Elektromobilität von der Regierung momentan in einer rasanten Geschwindigkeit durchgepeitscht wird – mit dem Ziel, zum Leitmarkt der E-Mobilität zu werden. Da dürfen wir uns nicht abhängen lassen.

Für die zwölf Projekte, die im Strategiedialog nun umgesetzt werden, gibt das Land 20 Millionen Euro aus. In die Unikliniken und die Luftreinhaltung steckt das Land jeweils 400 Millionen Euro. Da wirken die 20 Millionen eher bescheiden. Haben Sie im nächsten Jahr mehr Spielraum, um mehr auszurichten?

Kretschmann: Wir fördern die Themen des Strategiedialogs ja auch an anderen Stellen. So stecken wir in das Thema Digitalisierung heute fünfmal so viel Geld, als wir uns noch vor zwei Jahren vorgenommen haben – insgesamt eine Milliarde Euro. Wir steigern die Mittel für die Zukunftsthemen wirklich dramatisch. Gerade auch in den Bereichen Elektromobilität und nachhaltige Mobilitätskonzepte. Da fließen mehr als 200 Millionen in die einzelnen Programme. Außer bei der Forschung und Entwicklung ist das Geld aber nicht das Entscheidende beim Strategiedialog, sondern die Vernetzung.

Das Gespräch führten Joachim Dorfs, Anne Guhlich und Christoph Reisinger.

Quelle:

Das Interview erschien am 24. Juli 2018 in der Stuttgarter Zeitung.
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