Interview

Mehr Einfluss für die Zivilgesellschaft

Portätfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Die Zivilgesellschaft soll in wichtigen Fragen denselben Zugang zu den Institutionen und zum Parlament bekommen wie Interessengruppen oder Lobbys. Das macht Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit dem Südkurier deutlich. Kretschmann mächte die Hürden für die direkte Demokratie in Baden-Württemberg senken, dennoch bleibe das Parlament das „Rückgrat unserer Demokratie“.

Südkurier: Fünf Tage nach Stuttgart 21 – haben Sie das Ergebnis verdaut?

Winfried Kretschmann: Am Abend der Volksabstimmung war es in keiner Weise verdaut. Mit einem so klaren Ergebnis für Stuttgart 21 habe ich nicht gerechnet. Andererseits war es toll: Die hohe Bürgerbeteiligung in Stadt und Land erfüllt mit Genugtuung. Das Paradoxe daran ist: Wir Grüne kämpfen seit 30 Jahren für mehr direkte Demokratie, dann kommt sie und du kriegst gleich eins auf die Mütze. Das müssen wir aber akzeptieren.

Südkurier: Hätten Sie Verständnis, wenn es zu weiteren Protesten der Gegner kommen sollte?

Winfried Kretschmann: Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht. Auch einem Ministerpräsidenten steht es nicht zu, den Leuten zu sagen, wann sie demonstrieren dürfen und wann nicht. Aber ich persönlich halte es nicht für zielführend, jetzt noch weiter zu demonstrieren, denn das Volk hat ja jetzt entschieden.

Südkurier: Nach einer Studie sind gerade Jüngere nicht gewillt, demokratisch legitimierte Entscheidungen zu akzeptieren. Sehen Sie diese Tendenz auch?

Winfried Kretschmann: So war es ja auch bei Stuttgart 21. Als alles beschlossen war, explodierte der Protest. Die Volksabstimmung war eine Entscheidung nach der Entscheidung. Die Bürger bekamen trotzdem die Gelegenheit zur Abstimmung und die Protestbewegung hat neue Formen der Beteiligung angestoßen – ein großer Erfolg für die ganze Republik. Mehr Demokratie geht nicht.

Südkurier: Der Volksentscheid wirkte auch wie eine Kommunikationsbrücke zwischen den beiden Koalitionspartnern Grüne und SPD....

Winfried Kretschmann: Diese Koalition hat im Kern den gesellschaftlichen Konflikt um Stuttgart 21 abgebildet. Die CDU hingegen hat so getan, als gebe es ihn nicht und irgendwelche dunklen Mächte brächten da 100 000 Leute auf die Straße. Unsere Koalition war sechs Monate lang durch den Konflikt um Stuttgart 21 belastet. Es war nicht gerade vergnüglich, dies auszuhalten und trotzdem politische Entscheidungen zu treffen. Wir haben den Mut gezeigt, trotz der Differenzen in einer so wichtigen Frage eine Regierung zu bilden und wir haben uns, auch in dieser Zeit, als arbeitsfähig erwiesen.

Südkurier: Sie sagen, mehr Demokratie gehe nicht. Ihre Koalition will aber sehr wohl mehr Demokratie. Sie planen eine Absenkung des Quorums bei Volksabstimmungen auf 20 Prozent.

Winfried Kretschmann: So gesehen haben Sie Recht: Das war jetzt ein Volksentscheid, den das Parlament veranlasst hat. Wir wollen aber Volksentscheide, die das Volk selber durch Volksbegehren veranlasst. Bisher sind die Quoren so hoch, dass es faktisch nicht möglich ist. Und da ist in der Tat sehr viel mehr Demokratie möglich, indem man die Quoren so senkt, dass sie keine Verhinderungsquoren mehr sind.

Südkurier: Es gibt die Idee einer Volksabstimmung über die Volksabstimmung, wenn keine Zweidrittelmehrheit im Landtag zustande kommt. Glauben Sie an eine Verständigung mit der CDU?

Winfried Kretschmann: Selbstverständlich. Wir haben ja noch keine Gespräche aufgenommen. Das waren bisher nur Schlagabtausche im Plenum und Wortmeldungen über die Medien. Wir müssen erst einmal vernünftig miteinander reden. Der Weg über eine Volksabstimmung, ist nicht ganz einfach, weil man für ein verfassungsänderndes Quorum die Zustimmung von 50 Prozent der Wahlberechtigten braucht. Ich denke aber, wenn wir einen solchen Termin an die Bundestagswahl andocken, kann das gelingen. Nein-Stimmen dürfte es kaum geben. Warum sollte das Volk dagegen sein, dass es selbst entscheiden kann? Das kann ich mir schwer vorstellen.

Südkurier: Bei Volksabstimmungen wird schon mal über Fragen abgestimmt, die eigenen Überzeugungen widersprechen, man denke nur an die Schweiz und das Minarettverbot. Inwieweit vertragen sich Volksabstimmungen mit Minderheitenschutz?

Winfried Kretschmann: Genauso gut wie Parlamentsbeschlüsse. Auch diese sind Mehrheitsbeschlüsse. Ein Volksentscheid zum Minarettverbot wie in der Schweiz wäre bei uns überhaupt nicht möglich. In der Schweiz ist das Volk auch oberster Verfassungsrichter. Das ist bei uns das Verfassungsgericht. Das heißt: Gesetze können, ob im Parlament oder per Volksabstimmung, nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung beschlossen werden. Abstimmungen, die Minderheiten diskriminieren, würden vom Verfassungsgericht einkassiert. Hier braucht niemand Angst zu haben, dass hier über die Todesstrafe abgestimmt wird.

Südkurier: Hat diese Volksabstimmung Ihr Vertrauen in die repräsentative Demokratie wieder ein wenig gestärkt?

Winfried Kretschmann: Mein Vertrauen in die repräsentative Demokratie ist ungebrochen. Die Parlamente sind und bleiben das Rückgrat unserer Demokratie. Grundsätzlich hat eine direkte Demokratie keine höhere Legitimation als demokratische Beschlüsse im Parlament. Das hielte ich für ein Missverständnis. Außerdem kann das Volk genauso falsche Beschlüsse fassen wie das Parlament. Ich sage aber auch immer, am Ende entscheidet nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit. Entscheidend ist doch, dass wir in erster Linie neue Formen der Beteiligung an politischen Entscheidungen brauchen – sehr viel früher als bei Stuttgart 21 und sehr viel breiter als nur über Volksabstimmungen. Vereinfacht gesagt: Wenn am Ende dieser Legislaturperiode die Zivilgesellschaft in wichtigen Fragen denselben Zugang, denselben Einfluss auf die Institutionen und das Parlament hat wie ihn die staatlichen Interessengruppen oder Lobbys schon immer hatten, dann haben wir einen guten Job gemacht.

Südkurier: Sie unterstellen großen Beteiligungswillen der Bürger. Sind Sie da nicht zu optimistisch?

Winfried Kretschmann: Seit der berühmten Leichenrede von Perikles vor 2500 Jahren gilt auch bei uns der Grundsatz: wer sich aus allem raushält, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger. Darauf basiert die Lebendigkeit unserer Demokratie. Wer nicht abstimmt, der hat seinen Einfluss selbst außer Kraft gesetzt. Deswegen halte ich Quoren letztlich für unsinnig. Den Gefallen müssen wir den abstinenten Bürgern nicht tun, ihnen dadurch Macht zu verleihen, dass sie wegbleiben. Insofern gilt: Wir müssen uns an der Sache entlang streiten, um uns nicht immer in diesem reflexartigen Schlagabtausch zu ergehen, von dem viele Leute zu Recht die Nase voll haben.

Südkurier: Trotzdem muss die Regierung diese Entscheidung durchsetzen. Wie setzen Sie etwa das Baurecht der Bahn durch. Was, wenn es Blockaden gibt. Die alte Landesregierung hat Wasserwerfer eingesetzt. Was tun Sie?

Winfried Kretschmann: Ich habe keinen Grund, davon auszugehen, dass der Protest nicht friedlich sein wird. Wir müssen Baurecht und Demonstrationsrecht schützen. Da kommt man nur mit dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit weiter. Wasserwerfer fahren nach meinem Verständnis bei Blockaden erst einmal gar nicht auf. Aber auch wir müssen polizeiliche Zwangsmittel einsetzen, wenn sie erforderlich sind. Dass das eine Zwickmühle ist, gebe ich rundweg zu.

Südkurier: Stützt Sie Ihre Partei bei diesem schwierigen Gang?

Winfried Kretschmann: Ja. Das tut sie.

Südkurier: Keine Angst vor Liebesentzug?

Winfried Kretschmann: Das kann einfach nicht der Maßstab sein, ob dann Teile mit Liebesentzug drohen. Der Maßstab ist das Recht. Jeder hat ein Recht, Rechte zu haben. Das stammt übrigens von Hannah Arendt.

Südkurier: Sie haben sich viel vorgenommen. Reicht Ihnen für all diese Vorhaben eine Legislaturperiode?

Winfried Kretschmann: Die Politik des Gehörtwerdens, wie ich es genannt habe, ist schon der Maßstab, den die Leute bei uns anlegen. Wir müssen bei einzelnen Verfahren zeigen, dass wir das machen und hinbekommen. Der Runde Tisch beim Pumpspeicherkraftwerk Atdorf zeigt ja, dass wir das sofort angehen. Ich habe auch Bahnchef Grube gesagt, bei den noch nicht planfestgestellten Abschnitten von Stuttgart 21 können wir zeigen, dass wir anders mit den Bürgern umgehen.

Südkurier: Und jeder hat die Hoffnung, dass er Projekte kippen kann?

Winfried Kretschmann: Ich verspreche nur eine Bürgergesellschaft, kein Bürgerparadies. Wir sehen immer mal wieder, dass Teile solcher Bürgerbewegungen zu Intoleranz und Fanatismus neigen. Deshalb haben die Institutionen eine Bringschuld an Fairness, Transparenz und Offenheit gegenüber Alternativen. Aber die Zivilgesellschaft hat auch die Bringschuld, den Streit zivilisiert zu führen, mit Argumenten, immer friedlich. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann der Schritt in die Bürgergesellschaft gelingen.

Südkurier: Sehen Sie auch Risiken?

Winfried Kretschmann: Ja, dieser Schritt kann auch scheitern. Da mache man sich nichts vor. Wir sehen in vielen Ländern populistische und demagogische Bewegungen hochkommen. Das ist dann wie Gift in der Bürgergesellschaft. Letztlich können wir dem nur mit Vernunft und Gemeinwohlorientierung begegnen. Demokratie ist halt kein Streichelzoo. Das ist eine schwierige Veranstaltung. Vielfach werden Bewegungen von Männern dominiert, da sucht man Junge, Migranten oder Frauen mit der Lupe. Unsere Staatsrätin hat das alles auf dem Schirm, weshalb wir in der Euphorie schon auch die Klippen und Stolpersteine sehen.

Südkurier: Aber ein Grundoptimismus bleibt?

Winfried Kretschmann: Die Grundüberzeugung, dass am Volk kein Weg vorbeiführt, gehört zur Demokratie. Wer Angst vor dem Volk hat, sollte was anderes machen als Politik.

Die Fragen stellten Gabriele Renz, Stefan Lutz und Dieter Löffler.

Quelle:

Südkurier
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