Interview

„Heimat wird nicht weniger, wenn man sie teilt“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf dem Lindenplatz im Park der Villa Reitzenstein.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht im Interview mit der Schwäbischen Zeitung über sein persönliches und politisches Lebensgefühl. Er erklärt, was ihm Heimat bedeutet, warum jemand auf sein Land stolz sein könne und wann dieser Stolz seine Berechtigung verliert.

Schwäbische Zeitung: Was ist für Sie Heimat: Deutschland, Baden-Württemberg, Oberschwaben, oder Sigmaringen-Laiz?

Winfried Kretschmann: Mit der Heimat ist es so: Wir denken immer, es sei klar, was sie ist, aber wenn wir drüber nachdenken, ist es auf einmal nicht mehr klar. Denn Heimat hat so viele Aspekte, aber nicht nur örtliche, sondern beispielsweise Phänomene wie den Dialekt. Wenn ich in Hamburg jemanden treffe, der Schwäbisch spricht, dann empfinde ich sofort ein Gefühl von Heimat. Oder wenn ich in Spanien in einen Gottesdienst gehe, fühle ich mich sofort wohl, denn es ist der gleiche Ritus wie daheim. Das gleiche geschieht, wenn man Musik hört, die man gerne mag. Seit Jahren lese ich im Urlaub Homer, den ich schon im Griechischunterricht gelesen habe, auch dann fühle ich mich zu Hause. Die Artenvielfalt und die Landschaft, in der ich lebe, gehört zur Heimat. Wenn ich den hellen Jura der Schwäbischen Alb sehe, weiß ich, ich bin zu Hause. Das heißt ja Heimat – man fühlt sich zu Hause.

Wir Deutschen haben aus guten Gründen ein distanziertes Verhältnis zu Heimatliebe und Patriotismus. Hat es die Politik in den vergangenen Jahrzehnten versäumt, den Begriff Heimat wieder positiv zu besetzen?

Kretschmann: Zum Patriotismus haben wir durch die Nazi-Zeit ein gebrochenes Verhältnis. Da ist der Begriff missbraucht und pervertiert worden. Deshalb sind wir damit sehr lange zu Recht vorsichtig umgegangen. Aber derzeit sind wir dabei, den Begriff wieder zurückzugewinnen für einen normalisierten Umgang. Der letzte Bundespräsident Joachim Gauck hat von aufgeklärtem Patriotismus gesprochen. Hohles Pathos funktioniert bei uns gar nicht, und das ist auch gut so. Aber andererseits ist es richtig, zum eigenen Land zu stehen. Denken wir an Helmut Kohl – für ihn war Europa eine Heimat, die er mit aufbauen wollte. Ich habe jetzt im Urlaub eine Biografie über den Staufer-Kaiser Friedrich II. gelesen. Der Autor Ernst H. Kantorowicz, ein Jude, war ein deutscher Patriot, aber nicht nationalistisch. Ganz anders als bei den Nazis. Heimat ist ein Begriff, der immer im Fluss ist. Das Gefährliche ist, dass jeder etwas anderes daraus machen kann.

Den Heimatbegriff nicht den Rechten überlassen

Darf man stolz sein auf sein Land?

Kretschmann: Ja, man darf stolz auf sein Land sein, wenn es nicht gegen andere gerichtet ist. Ich bin stolz auf den Mittelstand in Baden-Württemberg. Und auf die starken Städte und Gemeinden hier, um die mich jeder andere Ministerpräsident Deutschlands beneidet. Für mich macht den ganz besonderen Reiz unseres Landes aus, dass sich so viele Menschen bürgerschaftlich engagieren. Damit darf und soll man sich identifizieren. Oft sind es vor allem Konservative, die den Begriff Heimat für sich nutzen.

Können es die Grünen schaffen, den Begriff so aufzuladen, dass er ihnen abgenommen wird?

Kretschmann: Dem österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen von den Grünen ist das in seiner Wahlkampagne ganz gut gelungen. Er hat klargemacht, dass man den Begriff nicht den Rechten überlassen darf. Ich habe in der jüngsten Landtagsdebatte gesagt: Naturschutz ist ein Stück Heimatschutz im besten Sinne. Politik beginnt immer zunächst mit Sprache. Das Recht auf Heimat ist etwas, das unsere Landesverfassung ausdrücklich nennt. Ich bin ein Flüchtlingskind, wenn auch schon hier geboren und sozialisiert. Wenn man die Schicksale vieler Flüchtlinge sieht, versteht man, was Heimat bedeutet. Deswegen wollen wir ja gerade Fluchtursachen bekämpfen: Wir wollen Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive schaffen.

Die Verfassung ist unsere Heimat

Wie kann Baden-Württemberg für Geflüchtete eine neue Heimat werden?

Kretschmann: Das meinen wir mit dem Begriff „Integrieren“. Schöner wäre es, wenn wir sagen würden: Die Geflüchteten müssen eine neue Heimat bekommen. Dazu gehört: Sie müssen eine Arbeit bekommen, ihre Kinder müssen zur Schule gehen oder einen Ausbildungsplatz finden, sie müssen neue Freunde bekommen. Sie müssen aber auch Dinge behalten dürfen, die sie mitbringen – zum Beispiel ihre Sprache. Diese müssen diese Menschen ebenso pflegen dürfen wie ihre Traditionen, die sie mitbringen. Es heißt ja auch: Heimat verändert sich mit Einwanderern. Wie wäre wohl unser Land ohne italienische Gastwirte? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.

Aber haben gerade davor nicht viele Menschen Angst, vor dieser Veränderung? Das hat ja durchaus zum Aufschwung der AfD beigetragen.

Kretschmann: Ja, das sind die Überfremdungsängste. Denn die Diskussion findet unter einer Begleitmusik statt, die nach Krieg und Terror klingt, nach Islamismus – dadurch fühlen sich viele Menschen bedroht. Unter den Geflüchteten gibt es solche und solche, das sind ja Menschen wie du und ich. Natürlich gibt es darunter auch Straftäter und Verbrecher, aber das darf man nicht auf alle Einwanderer übertragen. Wir erwarten, dass sich die Menschen, die zu uns kommen, an unsere verfassungsmäßige Ordnung halten. Die Verfassung ist unsere Heimat, in einem ganz tiefen und tragenden Sinn. Wir dürfen aber auch nicht vergessen: Wir sind alle verschieden. Der eine macht den VfB Stuttgart zu seinem Lebensmittelpunkt, der andere seine Kirchengemeinde, der Dritte wieder was anderes. Obwohl immer wieder der Wunsch nach Homogenität auftaucht, dass alle gleich sind, gibt es das gar nicht und hat es nie gegeben. Es gibt nicht die Deutschen, die Türken, die Frauen, die Grünen. Und es lohnt sich, sich klarzumachen: Heimat wird nicht weniger, wenn man sie teilt.

Sind denn die Grünen noch ihre politische Heimat?

Kretschmann: Klar, ich habe sie ja mal mitbegründet. Sie zu gründen war eine späte Folge davon, dass ich mich in eine linksradikale Sekte verlaufen hatte. Dann muss man zurückgehen. So habe ich gemeinsam mit vielen anderen politisch Heimatlosen eine neue Heimat gegründet. Aber Heimat ist immer auch etwas Schwieriges. Denken sie an ein kleines Dorf, an die soziale Kontrolle dort. Von dort möchte man auch manchmal weg. Natürlich habe ich mich an meiner Partei gerieben. Zur Heimat gehört eben auch Streit, aber zivilisierter Streit hält eine Gesellschaft zusammen, nur unzivilisierter Streit zerstört sie.

Politik ist die Kunst des Möglichen

Auch die grüne Jugend protestiert gegen Ihre Haltung in der Frage zu Abschiebungen nach Afghanistan. Tut es besonders weh, wenn Menschen aus ihrer politischen Heimat selbst gegen Sie demonstrieren?

Kretschmann: Das bewegt mich natürlich schon besonders, keine Frage. Als junger Mensch hadert man mit Realitäten auf eine härtere Weise. Es gehört eine gewisse Erfahrung dazu zu sehen, dass man die Welt nicht aus den Angeln heben kann. Die Welt ist ungerecht, es geht nur in kleinen Schritten und mit vielen Rückschlägen voran. Sie müssen sehen: Ich bin ja der Opa dieser Demonstrierenden. Es wäre schlimm, wenn die auf dem gleichen Erfahrungslevel wären wie ich. Die Politik ist die Kunst des Möglichen. Politik ist also auch eine Kunst. Das heißt: Was ist möglich? Das steht ja nicht fest. Immerhin sind wir in Deutschland das Land mit der liberalsten und humansten Flüchtlingspolitik. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg kann die Welt nicht retten. Das führt manchmal zu Spannungen wegen enttäuschter Erwartungen. Aber natürlich arbeite ich jeden Tag an kleinen Veränderungen hin zum Besseren.

In unserer Redaktion mehren sich Anrufe, die sagen: Wir fürchten, dass Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl sie einen Ausbildungsplatz haben.

Kretschmann: Dafür gibt es die „Drei-plus-zwei-Regel“: Flüchtlinge dürfen während ihrer zwei- oder dreijährigen Ausbildung bleiben und zwei weitere Jahre in dem Beruf arbeiten. Diese Regel gilt. Das haben wir auch noch einmal in der Koalition besprochen und achten genau darauf, dass die Regel angewandt wird. Wir nehmen jene Menschen auf, die verfolgt werden oder aus Bürgerkriegsgebieten kommen. Die, die nicht verfolgt werden, müssen in ihre Heimat zurückkehren. Auch, wenn wir ihre Motive nachvollziehen können – etwa Flucht aus Armut. Und für die brauchen wir ein Einwanderungsgesetz. Flüchtlinge nehmen wir in einem humanitären Akt auf. Einwanderung dagegen betrifft diejenigen, die wir benötigen und die über legale Wege kommen, und dafür brauchen wir neue Regeln. Die Demografie schlägt bereits richtig zu. Überall fehlen Fachkräfte: im Gastgewerbe, im Handwerk, in der Pflege. Nur mit einem Einwanderungsgesetz können wir den Druck auf das Asylsystem rausnehmen.

Wir essen einen Knödel nach dem anderen

Die CDU hat gefordert, nach den Wahlen über weitere Änderungen am Polizeigesetz zu diskutieren. Sie will nicht nur WhatsApp und andere Dienste mitlesen, sondern auch Onlinedurchsuchungen erlauben und den Zugriff auf die Vorratsdatenspeicherung. Was halten Sie davon?

Kretschmann: Da halte ich es mit Horst Seehofer: Wir essen einen Knödel nach dem anderen. Jetzt haben wir uns gerade auf eine Änderung des Polizeigesetzes geeinigt. Wir müssen uns in der Politik abgewöhnen, schon dann mehr zu fordern, wenn wir gerade erst ein Stück vorangekommen sind. Sonst denken die Bürger, man habe gar nichts erreicht.

Für viele Menschen ist Heimat dort, wo ihre Familie ist. Was bedeutet Ihnen Ihre Familie?

Kretschmann: Ich habe seit zwei Jahren einen Enkel. Es belebt die Familie wieder, wenn die nächste Generation kommt. Als ich nach dem Parteitag nach Hause kam, kam sonntags die Familie. Da hatte ich einen ganzen Tag Enkeltag. Früher hab ich den Kopf frei bekommen durch Handwerksarbeiten. Jetzt macht das der Enkel.

Das ist ein sehr klassisches Familienleben. Die Debatte um andere Familienmodelle wird sehr emotional geführt. Kocht diese Debatte deshalb so hoch, weil einige Menschen hier sicher geglaubte Heimat in Gefahr sehen?

Kretschmann: Familie ist unser Urort. Wo wir als Kinder groß werden, die Erfahrungen, die wir mit den Eltern und Geschwistern machen sind tief prägend. Sehr viele junge Menschen wollen eine Familie gründen, und meine Sorge ist eher, dass junge Leute das überfrachten, zu viel in eine Partnerschaft hineinprojizieren. Man kann nicht alles auf Partnerschaft und Familie konzentrieren, man muss auch andere Dinge tun. Das Leben ist sehr vielfältig.

Diese Fragen aber sollten wirklich mal abkoppelt werden von der sexuellen Orientierung. Denn für diese Verknüpfung gibt es keine Gründe. Jeder muss mit seiner Orientierung das machen können, was in der Verfassung steht: seine Persönlichkeit frei entfalten. Wenn Homosexuelle eine Familie gründen, bedroht das doch niemanden. Außerdem halte ich es für gefährlich, wenn man aus einer Familie eine Idylle macht. Heimat ist ja auch keine Idylle. Heile Familie gibt es nur in Bilderbüchern, denn es gibt immer Konflikte in einer Familie, und wer etwas anderes erzählt, färbt schön. Das Leben ist kein Kitsch. Die unangenehmen Seiten gehören dazu, aber wir dürfen nicht vergessen, sie bereichern das Leben.

Die Fragen stellten Hendrik Groth, Katja Korf und Kara Ballarin.

Quelle:

Das Interview erschien am 27. Juni 2017 in der Schwäbischen Zeitung.
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