Interview

„Es kommt drauf an, dass wir uns gegenseitig helfen“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann während eines Telefoninterviews.

Im SPIEGEL-Gespräch zur Coronakrise warnt Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor einer zu frühen Lockerung der Maßnahmen. Er spricht über eine drohende Rezession und Solidarität mit den europäischen Nachbarn sowie über die Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft und Konsequenzen danach.

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir befinden uns in einer der schwersten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele Menschen sind verunsichert. Sie auch?

Winfried Kretschmann: Verunsichert ist nicht der richtige Ausdruck. Ich muss richtig handeln und möglichst sichere Entscheidungen treffen. Das ist schwieriger als sonst, weil über das Virus wenig bekannt ist. Die Folgen unseres Tuns sind schwer abzuschätzen.

Baden-Württemberg hat mit die meisten Corona-Infizierten. Sie haben weitreichende Maßnahmen beschlossen, um die Krise zu bewältigen, darunter eine strikte Ausgangsbeschränkung und Grenzkontrollen. Reicht das?

Kretschmann: Höchstwahrscheinlich. Wir sehen jetzt zum ersten Mal einen Rückgang der Neuinfizierten. Aber das ist eine Momentaufnahme. Wir brauchen schon noch ein paar Tage, um das belastbar beurteilen zu können.

Ihre Lieblingsphilosophin Hannah Arendt hat vor den Gefahren des Abbaus demokratischer Freiheiten gewarnt. Sie gelten als Hardliner in der Krise. Schränken Sie die Menschen nicht zu sehr ein?

Kretschmann: Ein altdeutsches Sprichwort heißt „Not kennt kein Gebot“. Aber das stammt aus einer vordemokratischen Zeit. Unsere Maßnahmen, auch die Einschränkung der Freizügigkeit, stehen auf dem Boden der Verfassung. Deren Werte und Normen werden in einer so schweren Krise allerdings neu gewichtet, etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wir opfern keine Rechte, wie oft gesagt wird. Aber natürlich dürfen die Maßnahmen nur temporär sein.

„Daten könnten für gezielte Tests relevant sein“

Ihr politischer Wegbegleiter Boris Palmer hat die Möglichkeit des Handytrackings zur Eindämmung der Seuche ins Spiel gebracht. Was halten Sie davon?

Kretschmann: Ich bin dafür. Das ist doch ein milderes Mittel als andere Maßnahmen, die tief in das Leben der Bürger eingreifen. Die Daten könnten für gezielte Tests relevant sein, und das gehört zu den wichtigsten Instrumenten, um die Pandemie zu überwinden. Es sollte freiwillig sein, aber ich gehe davon aus, dass viele Menschen bereit wären, so eine App zu nutzen.

Wann bekommen die Menschen ihre Freiheiten zurück?

Kretschmann: Das können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Erst mal müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Sicher ist, die körperliche Distanz, die Hygienevorschriften werden wir vorerst weiter beherzigen müssen. Die Neuinfektionsrate muss stabil auf niedrigem Niveau und das Gesundheitssystem entsprechend aufgerüstet sein. Wir brauchen genügend Testkapazitäten, um sehr viel schneller als jetzt Ergebnisse zu bekommen, auch aus Antikörpertests. Und natürlich müssen die Risikogruppen entsprechend geschützt sein. Die Entscheidung, Wirtschaft und Gesellschaft peu à peu wieder hochzufahren, kann nur gemeinsam zwischen allen Ländern und dem Kanzleramt getroffen werden. Es wird sicherlich noch eine ganze Weile dauern, bis wir unser normales Leben wiederhaben.

„Eine zu frühe Lockerung wäre verheerend“

Wie nehmen Sie die aktuelle Ungeduld in der Debatte wahr, und haben Sie Angst vor einer zu frühen Lockerung?

Kretschmann: Ich verstehe das, ich würde meine Enkel auch so gern mal wiedersehen. Aber ich kann nur um Geduld bitten. Wir sind auf einem guten Weg, aber jetzt müssen wir noch durchhalten. Je disziplinierter wir alle zusammen sind, umso schneller können wir die Maßnahmen lockern. Eine zu frühe Lockerung wäre verheerend, dann wäre alles, was wir in den letzten Wochen durchgehalten haben, für die Katz. Dann würde sich eine zweite Welle aufbauen, die im Zweifel noch größer als die jetzige wird, und wir müssten noch einmal alles runterfahren. Ein zweiter Lockdown wäre schwer zu verkraften, sowohl für unsere Wirtschaft als auch für die Gesellschaft.

Die Grünen sehen sich als die Partei der Bürgerrechte. Wie ist es für Sie als grüner Ministerpräsident, in diesen Law-and-Order-Zeiten ein Land zu führen?

Kretschmann: Damit habe ich als Grüner gar kein Problem. Diese Krise kommt von außen, ihre Bewältigung diktiert das Virus. Unsere Reaktion folgt dem Rat der Wissenschaft. Zudem muss ich abwägen, welche Konsequenzen das Ganze für andere Bereiche des Lebens hat, etwa für die Wirtschaft und das soziale Befinden. In solchen Krisen spielt Parteipolitik keine Rolle. Das stelle ich auch bei den Kollegen in der Ministerpräsidentenkonferenz fest.

Wir hatten den Eindruck, vor allem Markus Söder nutzt die Krise durchaus zur Selbstdarstellung.

Kretschmann: Er geht die Probleme entschlossen an und ist gut in der Kommunikation. Das macht er prima. Das muss man uneingeschränkt so sagen.

Söder hat in Bayern den Katastrophenfall ausgerufen. Warum haben Sie das in Baden-Württemberg nicht gemacht?

Kretschmann: Wir haben eine bewährte Stabsstruktur, die wir in der Flüchtlingskrise 2015 geschaffen haben. Damit arbeiten wir sehr gut. Es hätte für uns keinerlei Vorteile, den Katastrophenfall auszurufen. Die Unterstützung der Bundeswehr etwa können wir auch so anfordern.

„Am Ende zählen unsere Ergebnisse“

Kritiker sagen, das Stuttgarter Krisenmanagement sei holprig, die Verwaltung bekomme häufig nicht klar gesagt, was sie machen soll. Ist das ein Problem?

Kretschmann: Krisenmanagement kann gar nicht reibungslos laufen, dann wäre es keine Krise. Wenn man Krisen planen könnte, würde man sie ja verhindern. Man findet für die Holprigkeit nur gern schönere Formulierungen wie „auf Sicht fahren“. Aber das trifft es nicht ganz. In einer Krise machst du einen bestimmten Schritt, merkst dann, dass es so nicht geht, und versuchst einen anderen. Dadurch kommst du in Zeitverzug und musst dich wieder neu abstimmen. Das ist der Normalmodus. Alles andere ist Politsprech. Am Ende zählen unsere Ergebnisse, und die stimmen.

Nun droht eine Rezession. Ist die baden-württembergische Wirtschaft dem gewachsen?

Kretschmann: Wir sind eine der exportstärksten Regionen Europas und massiv vom weltweiten Handel abhängig. Uns betrifft nicht nur, wie wir selbst mit der Pandemie umgehen, sondern auch, welche Auswirkungen sie in anderen Teilen der Welt hat. Unsere Maschinen- und Automobilbauer merken bereits eine wirtschaftliche Erholung in China.

Ihr wichtigster Exportpartner ist die EU. Braucht es nicht dringend Corona-Bonds, um Spanien und Italien zu helfen?

Kretschmann: Anderen europäischen Staaten in der Coronakrise beizustehen, ist nicht nur ein Akt der Solidarität. Das ist auch wohlverstandenes Eigeninteresse. Wenn Länder wie Spanien oder Italien, mit denen wir intensiven Handel treiben, von allein nicht auf die Beine kommen, dann trifft das auch uns. Das muss in der Debatte über die verschiedenen Hilfsinstrumente stärker berücksichtigt werden. Davon hängt ab, wie tief die Rezession unserer Wirtschaft ausfällt.

Kanzlerin Merkel sieht das offenbar anders.

Kretschmann: Wir dürfen in dieser Zeit nicht die alten Grabenkämpfe aus der Griechenlandkrise wiederaufleben lassen. Damals ging es um selbst verschuldete Finanznöte, um die Eigenverantwortung der Länder. Die jetzige Lage verursacht ein fieses Virus, das alle unverschuldet trifft. Deswegen lege ich da einen anderen Maßstab an. Corona-Bonds sind nicht Eurobonds. Es kommt drauf an, dass wir uns gegenseitig helfen. Sonst ist Solidarität ein leeres Wort. Außerdem wäre es politisch klug. Da muss ich an den überzeugten Europäer Helmut Kohl denken, der hatte die politischen Konsequenzen immer im Auge. Wenn wir Italien in so einer schweren Zeit nicht helfen, dann werden die Italiener uns das so schnell nicht verzeihen.

„Ich agiere auch in der Krise mit Bedacht“

Was ist Ihre persönliche Strategie, mit Krisen umzugehen?

Kretschmann: Man muss Krisen annehmen und darf nicht mit ihnen hadern. Das blockiert die eigene Kreativität. Man sollte sich nicht dauernd darüber ärgern, dass man jetzt so ein Zeug an der Backe hat.

Wir leben in schnellen Zeiten, die schnelle Entscheidungen erfordern. Fühlen Sie sich mit 71 noch schnell genug?

Kretschmann: Selbstverständlich. Außerdem habe ich viel politische Erfahrung, ich agiere auch in der Krise mit Bedacht. Beim Kollegen Söder spürt man mehr eine Sturm-und-Drang-Phase. Er ist ein junger Ministerpräsident, ich bin schon fast zehn Jahre im Amt. Das fließt jetzt im Föderalismus alles zusammen, diese unterschiedlichen Charaktere, das stärkt unser Land in so einer Zeit.

Mancher Ministerpräsident will sich jetzt ja auch als Krisenmanager beweisen, weil er höhere Ziele anstrebt – Ihr Kollege Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen etwa.

Kretschmann: Da habe ich es wirklich gut, das plagt mich nicht. Ich will nicht nach Berlin. Insofern kann ich mich jetzt ganz auf mein Land konzentrieren und muss bei der Bewältigung der Krise nicht politisch hervorgehoben agieren.

Sie sind bekennender Katholik. Welche Rolle spielen in Zeiten der Not die Themen Glaube und Religion für Sie?

Kretschmann: Ich finde, man sieht gerade wieder, wie stark christlich geprägt das Verhalten der allermeisten Menschen ist. Wir können in solchen Zeiten – und das war auch schon in der Flüchtlingskrise so – auf unglaubliche Ressourcen der Solidarität zurückgreifen. Das fällt ja nicht einfach vom Himmel. Mein Glaube bedeutet Zuversicht. Als Politiker hat man auch Angst vor dem Scheitern. Wenn ich in so einer Krise versage, weil ich schwere Fehler mache, scheitere ich als Politiker, aber noch lange nicht als Mensch vor Gott.

Katholische Hardliner kritisieren die Veranstaltungsverbote. Gottesdienste dürfe man nicht mit Fußballspielen gleichsetzen. Was halten Sie davon?

Kretschmann: Die Religionsfreiheit gehört zu den wichtigsten Grundrechten, die wir erkämpft haben, das kann man nicht mit der Bundesliga vergleichen. Das Verbot von Gottesdiensten ist ein tief greifender Einschnitt. Deshalb haben wir das intensiv mit allen Betroffenen besprochen. Das ist keine Bastapolitik. Wir haben das im Dialog mit den Kirchen und allen anderen Religionsgemeinschaften umgesetzt.

Nun steht Ostern vor der Tür, am 23. April beginnt der Ramadan.

Kretschmann: Es gibt immer Bewährungsproben, auch für die Religionsgemeinschaften. Aber es muss der Anspruch des modernen Verfassungsstaates sein, dass er den Bürger nicht vor die Frage stellt: Muss ich jetzt Gott mehr gehorchen als den Menschen? Der Staat darf die Gläubigen gar nicht in so ein Dilemma bringen.

„Diese Krise hat tief in unseren Alltag eingegriffen“

Glauben Sie, dass diese Krise unsere Gesellschaft stärken oder schwächen wird – langfristig betrachtet?

Kretschmann: Das ist eine spannende Frage. Wenn man auf die Erfahrung mit Hochwassern in bekannten Überschwemmungsgebieten schaut, müsste mich das pessimistisch stimmen: Da ist alles dreckig, verschlammt, zerstört. Und alle schwören, so geht es nicht weiter. Aber wenn der Keller wieder sauber und aufgeräumt ist, werden ein halbes Jahr später schon die ersten Bauanträge in diesen Gebieten gestellt. Es erstaunt mich immer wieder, wie schnell und radikal die Menschen vergessen.

Fürchten Sie, das wird nach Corona auch so sein?

Kretschmann: Nein, das vermute ich nicht, diese Krise hat zu tief in unseren Alltag eingegriffen. Ich bin mir sicher, dass wir in einigen Bereichen, zum Beispiel was die dramatische Abhängigkeit von Medizinprodukten anderer Staaten angeht, Konsequenzen ziehen und tief greifende Veränderungen erleben werden. Und ich würde uns allen raten, dass wir danach nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern uns überlegen, wo wir in unserer globalisierten Welt unser Handeln neu justieren müssen. Vielleicht wird in Zukunft der Widerstand gegen Windkraftanlagen wegen Infraschall nicht mehr so hoch gehängt – jetzt, da wir alle erlebt haben, wie sich eine wirklich existenzielle Bedrohung anfühlt.

Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Felix Bohr und Simone Salden.

DER SPIEGEL 16/2020 vom 11. April 2020

Quelle:

Das Interview erschien im SPIEGEL 16/2020 vom 11. April 2020
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