Interview

„Eine Religion muss sich reinigen“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann

„Traditionen und religiöse Gesetze dürfen nicht über säkularen Gesetzen einer Demokratie stehen”, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit der Welt am Sonntag. Da dürfe es bei der Integration keine Rabatte geben. Von Muslimen fordert er, dass sie ihre Stimme erheben, wenn der Islam missbraucht werde. „Der Islam muss sich von diesen gewalttätigen Exzessen reinigen.” Das sich eine Religion immer wieder reinigen müsste, sei nichts Neues.

Welt am Sonntag: Herr Kretschmann, Sie warnen, dass Deutschland spätestens im Frühjahr massive Probleme bekommt, wenn es mit dem Flüchtlingszuzug so weitergeht wie bisher. Geht dann nichts mehr?

Winfried Kretschmann: Die Alternative heißt nicht: „Wir können nicht mehr.“ Sondern: Bauen wir Zeltstädte?

Die gibt es doch jetzt schon.

Kretschmann:  Aber es wird dann noch sehr viel mehr und größere geben. Die Menschen kommen, wir – die Länder und Kommunen – müssen sie aufnehmen, da gibt es kein Vertun. Und wenn wir keine festen Unterkünfte haben, müssen wir Traglufthallen oder winterfeste Zelte aufstellen.

Wie konnte es so weit kommen?

Kretschmann: Wir im Land managen die Lage bisher ganz gut. Noch musste niemand im Freien übernachten, auch wenn es immer schwieriger wird, Unterkünfte zu finden. Aber die Versäumnisse der Bundesregierung sind gravierend. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat schon im Oktober 2014 von der Bundesregierung gefordert, das Personal für die Asylverwaltung aufzustocken. Ich habe schon zuvor einen Brief an die Kanzlerin geschrieben. Aber das Problem wurde einfach ausgesessen. Da ist viel wertvolle Zeit verloren gegangen.

Hat Angela Merkel geschlafen, oder war es der Innenminister?

Kretschmann: Schuldfragen sind nicht produktiv. Das nutzt jetzt nichts mehr. Wenig hilfreich ist allerdings, dass jetzt ständig jemand aus der großen Koalition Steine ins Wasser schmeißt. Die unausgegorenen Vorschläge schlagen zwar hohe Wellen, bringen aber nur Unruhe. Der eine ruft nach Transitzonen, der nächste will den Familiennachzug beschränken. Wir sollten lieber zügig das umsetzen, was wir schon beschlossen haben.

Was muss denn passieren, um wieder einigermaßen Ordnung herzustellen?

Kretschmann: Mehr Registrierungszentren sind nötig, wie wir in Heidelberg eines eingerichtet haben. Dadurch bekommen wir, aber auch die Flüchtlinge schneller Klarheit darüber, ob jemand bleiben kann oder in seine Heimat zurückmuss. Außerdem brauchen wir dringend steuerliche Abschreibungsmodelle. Die öffentliche Hand kann den Bau von Sozialwohnungen und Flüchtlingsunterkünften nicht allein stemmen, wir brauchen privates Kapital. Ganz wichtig: Die Solidarität von Europa muss greifen. Und vor allem müssen wir Flüchtlingslager am Rande der Bürgerkriegsgebiete stabilisieren.

Denen die Bundesregierung die Beihilfen gekürzt hat.

Kretschmann: Die Unterfinanzierung ist nicht nur inhuman, sondern auch völlig widersinnig. Wenn die Leute dort hungern und buchstäblich im Dreck leben, muss sich hier niemand wundern, wenn sie aufbrechen. Dabei wollen die meisten eigentlich in der Nähe ihrer Heimat bleiben. Deutschland hat allerdings im Gegensatz zu vielen anderen Geberländern zumindest seine Zusagen eingehalten.

Droht die Flüchtlingsproblematik im anstehenden Wahlkampf in Baden-Württemberg instrumentalisiert zu werden?

Kretschmann: Bisher glücklicherweise nicht, von ein paar Einzelstimmen abgesehen. Aber ich kann nur warnen: Wer sich auf populistische Bahnen begibt, treibt nur den Rechten Stimmen zu. Aus diffusen Ängsten und absurden Gerüchten entstehen schnell fatale Bedrohungs- und Überfremdungsgefühle. Vor einiger Zeit machte in einer Gemeinde zum Beispiel die Runde, die Flüchtlinge hätten Tiere aus dem Streichelzoo geschlachtet. Viele haben das tatsächlich geglaubt. Dabei waren die nur ins Winterlager gebracht worden.

Manche Politiker glauben, mehr Abschreckung würde helfen.

Kretschmann: Wir müssen die EU-Außengrenzen sichern und die klare Botschaft aussenden, dass jeder zurückmuss, der nicht politisch verfolgt oder einem Bürgerkrieg entflohen ist. Aber nur durch Restriktionen oder Abschottung lässt sich der Flüchtlingsstrom nicht eindämmen. Wer keine Perspektive hat, macht sich auf den Weg. Vor 150 Jahren sind die Menschen massenweise von der Schwäbischen Alb ausgewandert, trotz aller Gefahren und Unabwägbarkeiten.

Sie machen Asylpolitik in großer Übereinstimmung mit der schwarzroten Koalition, loben die Kanzlerin.

Kretschmann: Krisen sind Zeiten, in denen Konsens gefragt ist, nicht Konflikt. Das parteipolitische kleine Karo ist derzeit nicht angebracht. Das war schon beim Fiskalpakt so. Die Kanzlerin ist ein unglaublicher Stabilitätsfaktor in Europa, und sie zeigt große Weitsicht. Wenn wir wieder nationale Grenzen errichten, schaltet Europa den Rückwärtsgang ein. Dann droht das europäische Projekt zu scheitern. Das will sie verhindern, und ich bin ganz an ihrer Seite. Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger. Das zeigt der Terrorismus überdeutlich.

Fürchten Sie eine Veränderung des Islam in Deutschland – eine Entwicklung weg vom aufgeklärten hin zum arabischen Islam?

Kretschmann: Vor allem die Muslime selber müssen sich darum kümmern, dass es nicht so weit kommt. Ihre Stimme erheben, wenn der Islam missbraucht wird. Es geht nicht darum, von den Muslimen andauernd zu verlangen, sich vom Terror zu distanzieren. Es geht um viel mehr: Im Islam gibt es vermehrt fundamentalistische Strömungen, die sich auch gegeneinander richten. Der Islam steckt in einer Krise. Da ist meines Erachtens Reformation angesagt. Dieses Problem können nur die Muslime selbst lösen.

Was erwarten Sie von ihnen?

Kretschmann: Der Islam muss sich von diesen gewalttätigen Exzessen reinigen. Dass sich eine Religion immer wieder reinigen muss, ist nichts Neues. Das musste das Christentum auch. Bei uns ist es Vergangenheit. Jede Religion muss darauf achten, zeitgemäß zu sein. Das ist die Aufgabe der Muslime. Es geht überhaupt nicht darum, friedliche Muslime in einen Topf zu werfen mit Terroristen, die den Islam nur missbrauchen. Denn die überwiegende Mehrheit von ihnen ist ja gegen diesen Fanatismus. Im Gegenteil: Wir müssen verhindern, dass der Terrorismus mit der Flüchtlingsfrage vermischt wird. Aber, dass Klärungsbedarf da ist, steht außer Frage.

Wie kann der Staat dabei helfen?

Kretschmann: Meine Regierung forciert den islamischen Religionsunterricht an den Schulen. An der Uni Tübingen zum Beispiel werden auf unserem universitären Niveau Religionslehrer und Imame ausgebildet. Diesen Weg müssen wir gehen, und zwar entschlossener und schneller als bisher. Nur so können wir verhindern, dass die Kinder durch Fundamentalisten und Terroristen ein Zerrbild des Islam vermittelt bekommen. Noch vor einigen Hundert Jahren war der Islam übrigens dem Christentum an Toleranz weit überlegen. Heute müssen wir immer wieder klarmachen: Traditionen und religiöse Gesetze dürfen nicht über säkularen Gesetzen einer Demokratie stehen. Nur so kann Integration funktionieren, da darf es keine Rabatte geben. Nur weil ein Großteil der Menschen aus patriarchalen Gesellschaften zu uns kommt, werden wir die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht plötzlich heruntermoderieren. Wir fördern Integration, aber wir fordern auch Integrationswillen.

Sind die Ängste vieler Menschen vor Islamisierung übertrieben?

Kretschmann: Solche Ängste halte ich für abwegig. Wie viele Muslime sitzen denn eigentlich in unseren Parlamenten? Wie viele sind Bürgermeister? Ich habe in Baden- Württemberg eine Bürgermeisterin mit Migrationshintergrund gefunden – Vater oder Mutter kommt aus Italien. Wie soll denn da eine Islamisierung über uns kommen? Diese Angst ist komplett unbegründet. Eine Islamisierung unserer Gesellschaft wird es nicht geben. Die Trennung von Staat und Religion ist ein konstitutioneller Grundsatz. Wir werden aber kulturelle Veränderungen erleben. Etwa durch den Bau von Moscheen und normales islamisches Leben wie das Fasten im Ramadan. Das ist gut und erwünscht. Schwierig ist, dass die Flüchtlinge aus Diktaturen und patriarchalen Gesellschaften kommen. Sie müssen schnell lernen, sich in unsere Verfassungsordnung und unsere freie Gesellschaft zu integrieren.

Fürchten Sie eine wachsende Terrorgefahr durch die deutsche Beteiligung am Militäreinsatz gegen den sogenannten „Islamischen Staat“?

Kretschmann: Nein, wir dürfen uns unser Handeln nicht von den Terroristen diktieren lassen. Im Gegenteil. Denn wenn wir unseren selbstbestimmten Lebensstil infrage stellen, haben die Menschenhasser des IS gewonnen. Aber wir müssen wachsam sein, denn es besteht weiterhin eine hohe abstrakte Gefährdungslage. Deshalb haben wir diese Woche ein zweites Anti-Terror-Paket geschnürt, bestehend aus der Stärkung der Sicherheitsbehörden und der Justiz sowie dem Ausbau der Prävention und der Intervention. Wenn der Kampf gegen den Terrorismus aber von Angst geprägt ist, haben wir schon verloren.

Wenn Sie auf Ihre bisherige Amtszeit zurückblicken – was gefällt Ihnen am Regieren?

Kretschmann: Die Möglichkeit, etwas zu bewegen und zu gestalten, das Land voranzubringen. Wenn Sie, wie ich, 30 Jahre auf den Oppositionsbänken saßen und gute Konzepte entwickelt haben, die dann oft im Papierkorb gelandet sind, dann wissen Sie das wirklich zu schätzen.

Und was stört Sie?

Kretschmann: Nervig ist, dass viele Vorhaben unglaublich lange brauchen bis zur Umsetzung. Ich tobte bei der Windkraft da manchmal auch mit dem einen oder anderen Minister herum, aber es nützte einfach nichts. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. Es dauerte so lang. Helmut Schmidt hatte wohl Recht, als er sagte: „Das Schneckentempo ist das normale Tempo jeder Demokratie.“

Die Fragen stellen Hannlore Crolly und Claudia Kade

Quelle:

Welt am Sonntag 49/2015
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