Interview

„Der Klimaschutz hat Priorität“

Winfried Kretschmann legt im Landtag seinen Amtseid als Ministerpräsident ab.

In seinem ersten großen Interview nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten spricht Winfried Kretschmann in der Südwest Presse über die Pläne der Landesregierung beim Klimaschutz, in der Schul- und in der Haushaltspolitik.

Südwestpresse: Herr Kretschmann, Sie sind in dieser Woche zum dritten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Von 100 Abgeordneten der Koalitionsfraktionen haben fünf nicht für sie gestimmt. Haben Sie eine Erklärung?

Winfried Kretschmann: 2016 haben mehr Stimmen aus dem Koalitionslager bei einer weniger komfortablen Mehrheit gefehlt, insofern ist das nichts Besonderes. Bei lagerübergreifenden Bündnissen muss man damit rechnen, dass das manche partout nicht wollen. Manchmal stecken auch persönliche Enttäuschungen dahinter. Ich habe mir vor der Wahl gesagt: Alles über 90 Stimmen ist gut. Jetzt habe ich eine satte Mehrheit.

Laut Koalitionsvertrag soll Baden-Württemberg zum Klimaland schlechthin werden, eine Blaupause für die Welt. Das klingt sehr ambitioniert....

Kretschmann: Wir müssen ambitioniert sein. Das sagt uns die Wissenschaft, das fordert die Jugend und nun auch das höchste deutsche Gericht ein. Wir haben mit unserem Koalitionsvertrag praktisch das Karlsruher Urteil vorweggenommen, das der Politik ein stärkeres Engagement aufträgt. Aber ich habe großen Respekt vor den Aufgaben, die jetzt vor uns liegen.

Das ist so, als dürften auf Straßen keine Autos fahren

Pläne sind gut, aber sie müssen auch umgesetzt werden. Wesentliche Parameter für den Emissionsausstoß im Verkehr regelt Brüssel, für den Ausbau der Windkraft sind Berliner Vorgaben entscheidender als Stuttgarter. Versprechen Sie Dinge, die Sie nicht steuern können?

Kretschmann: Klar ist: Brüssel muss sich beim Zertifikatehandel bewegen, damit die Preise steigen. Ohne solche marktwirtschaftlichen Instrumente dauert etwa der Kohleausstieg zu lange. Die Bundesregierung hat mit Blick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil erfreulicherweise jetzt auch endlich eingesehen, dass die CO2-Bepreisung weiter steigen muss. Darauf drängen wir ja schon lange. Aber es bleiben noch eine Menge Aufgaben für uns.

Wo zum Beispiel?

Kretschmann: Bei der Windkraft gilt ab Januar 2022 ein Südbonus, das hat unser ehemaliger Umweltminister Franz Untersteller erkämpft. Dann haben wir zunächst mal wieder bessere Ausschreibungsbedingungen. Wir brauchen aber auch dringend mehr Flächen, da haben wir uns mit der CDU auf ein kräftiges Ausbauziel geeinigt. In unserem Staatsforst werden wir sehr zügig Flächen anbieten, damit der Bau neuer Windräder schnell beginnen kann. Die Ausweitung der Solarpflicht auf neue Wohngebäude wird ebenfalls zu den ersten Maßnahmen gehören. Das wird aber nicht reichen.

Woran denken Sie noch?

Kretschmann: Wir müssen auch auf die bestehenden Dächer mehr Photovoltaik bekommen. Das ist eine ungenutzte Infrastruktur. Das ist so, als dürften auf Straßen keine Autos fahren. Ich könnte mir eine Photovoltaikpflicht bei Dachsanierungen vorstellen, vielleicht fällt uns auch noch mehr ein. Das ist ein sehr moderater Eingriff ins Eigentum, die Funktion des Daches wird ja nicht beeinträchtigt. Und die Investitionen amortisieren sich nicht nur, da springt sogar ein Gewinn raus.

Sobald ein Windrad geplant wird, gibt es Proteste. Warum sollte sich das ändern?

Kretschmann: Weil wir sonst mit der Energiewende nicht vorankommen. Die Fachleute sagen uns, es dauert sieben Jahre von der Idee bis zur Errichtung eines Windparks. Sieben Jahre! Wir wollen den Zeitraum zumindest halbieren. Die Windschallfrage muss doch nicht bei jedem Windrad neu betrachtet werden. Da gibt es ja einschlägige Untersuchungen, auch vom Bundeswirtschaftsministerium. Und auch beim Artenschutz müssen wir ein Stück rationaler argumentieren. Es kann nicht sein, dass der Rote Milan über die Energiewende entscheidet.

Für das, was Geld kostet, muss man Geld haben

Passt der Haushaltsvorbehalt im Koalitionsvertrag zum Karlsruher Urteil?

Kretschmann: Erst einmal: Ich verstehe nicht, warum der Haushaltsvorbehalt kritisch diskutiert wird. Für das, was Geld kostet, muss man Geld haben, sonst kann man es nicht bezahlen. Das ist ganz banal. Wir müssen durch die Schuldenbremse einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen und gleichzeitig Prioritäten setzen. In der langen Wachstumsphase, die wir hatten, sind solche Selbstverständlichkeiten leider aus dem Blick geraten.

Was heißt das für die Klimapolitik?

Kretschmann: Der Klimaschutz hat Priorität. Vieles hängt von unserem Willen und den Möglichkeiten ab, privates Kapital zu mobilisieren. Man sieht an den Beispielen Windkraft und Photovoltaik, dass wir über das Ordnungs- und Planungsrecht vieles beschleunigen können. Es gibt keinen Mangel an Investoren für Windparks, es fehlen Flächen und rasche Planungsprozesse. Man muss nicht immer auf den Staatshaushalt starren.

Sie haben mit Danyal Bayaz einen 37-jährigen Bundespolitiker zum Finanzminister berufen. Was versprechen Sie sich von ihm?

Kretschmann: Danyal Bayaz kommt aus dem Finanzbereich und hat sich im Bundestag im Wirecard-Untersuchungsausschuss einen Namen gemacht. Er hat da Herzblut, das spürt man. Er ist noch jung, aber die Führungspersönlichkeit springt ihm aus jedem Knopfloch. Ich halte ihn für ein großes Talent. Natürlich kennt er den Landeshaushalt noch nicht genau in allen Details, aber das wird sich schnell ändern. Ich verspreche mir von ihm auch bundespolitische Akzente.

Er hat sich vor seiner Berufung mit Vorstößen profiliert, die auf eine Lockerung der Schuldenbremse zielen. Sie sehen da ebenfalls Diskussionsbedarf?

Kretschmann: Die Schuldenbremse steht im Grundgesetz und in der Landesverfassung. Daran sind wir als Regierung gebunden. Ich bin auch ein Anhänger der Schuldenbremse. Die Frage, ob man sie in Nullzinszeiten und angesichts der Klimakrise nicht weiterentwickelt, muss man aber diskutieren.

Die Länder brauchen mehr eigene Steuerhebungsrechte

Haben Sie weitere bundespolitische Akzente im Sinn?

Kretschmann: Die Länder brauchen mehr eigene Steuerhebungsrechte, etwa bei den Steuern, die ihnen zustehen. Wir sollten Zuschläge auf die Einkommens- und Körperschaftssteuer erheben dürfen, um Programme zu finanzieren. Das war schon ein Vorschlag in der Föderalismuskommission. Im Moment ist die Grunderwerbssteuer die einzige Steuer, über deren Höhe das Land entscheiden kann. Zur Verbesserung der Kleinkindbetreuung hatten wir diese Steuer unter Grün- Rot erhöht. Ich kann mich an keine großen Proteste erinnern.

Was stellen Sie sich konkret vor?

Kretschmann: Noch nichts, denn wir haben die Möglichkeit noch nicht.

Was erwarten Sie von Ihrer neuen Kultusministerin Theresa Schopper?

Kretschmann: Wir haben eine Million Schüler, zwei Millionen Eltern, über 100.000 Lehrer. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Wenn das jemand stemmen kann, dann meine bisherige Staatsministerin Theresa Schopper. Sie hat große kommunikative Fähigkeiten und weiß, wie man politische Pläne in die Praxis umsetzt.

Corona hat Defizite offengelegt

Keine Strukturdebatten, heißt es im Koalitionsvertrag. Das klingt nach Stillstand.

Kretschmann: Über pädagogische Fragen lässt sich nur schwer Konsens herstellen. Die einen sind auf bewertete Leistung aus, die anderen wollen keine Ziffernoten. Deshalb gibt‘s dauernd Weltanschauungsstreit. Wir können aber gerade keinen solchen Streit gebrauchen, wir haben ganz andere Probleme. Corona hat Defizite offengelegt, etwa bei der Digitalisierung, aber auch gezeigt, dass einzelne Schulen den Aufgaben gut gewachsen sind. Daraus müssen wir etwas machen. Theresa Schopper ist dafür die Richtige. Sie packt an und hält wie ich wenig von ideologischen Debatten. Wir werden auch der demokratischen Opposition Angebote für mehr Schulkonsens machen.

Aus einer Abteilung des Wirtschafts- wird ein eigenes Ministerium für Landesentwicklung und Wohnen. Ist das gerechtfertigt?

Kretschmann: Ja, aus zwei Gründen. Erstens: Bezahlbares Wohnen gehört zu den großen sozialen Herausforderungen der Zukunft. In Baden-Württemberg sind wir bei der Entwicklung von Immobilien- und Mietpreisen in einer besonders prekären Lage. Das hat eine unglaubliche Sprengkraft.

Und der zweite Grund?

Kretschmann: Allein die Zementindustrie emittiert acht Prozent der globalen Treibhausgase! Die graue Energie beim Bauen, also die Energie, die in den Materialien steckt, ist etwa fünf bis acht Mal so groß wie die Betriebsenergie der Gebäude. Wenn wir alle Emissionen auf null drücken aber beim Bauen nichts ändern, ruinieren wir das Klima trotzdem. Kurzum: Der Bausektor ist ein zentraler Baustein beim Klimaschutz.

Wie passen leere Kassen und die Schaffung eines neuen Ministeriums und weiterer Staatssekretärsposten zusammen?

Kretschmann: Erstens: Krisen erfordern einen starken Staat. Zweitens: Wir haben ein ambitioniertes Programm, da muss sich hinter jede Aufgabe jemand klemmen. Drittens: Wir machen die Politik des Gehörtwerdens. Das bedeutet einen hohen Kommunikationsaufwand. Es gibt eine Verpapstung der Politik: Die Leute wollen den Papst sehen, nicht den Bischof. Und, auf die Politik bezogen, keinen Beamten, der ihnen mangels Prokura keine verbindliche Ansage machen kann. Deshalb gibt es die Staatssekretäre. Das sind auch Investitionen in die Demokratie. Ohne sie gäbe es viel mehr Verdruss. Das käme uns viel teurer zu stehen.

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Die Fragen stellte Roland Muschel.

Quelle:

Das Interview erschien am 15. Mai 2021 in der Südwest Presse.
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