Interview

„Der Fremde ist dein Nächster“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (3.v.r.) spricht im ehemaligen Kloster in Weingarten mit Flüchtlingen. (Foto: dpa)

Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die wachsende Flüchtlingszahl, Flucht und Vertreibung in der Bibel und seine frühen Erfahrungen als Kind ostpreußischer Flüchtlinge.

Stuttgarter Zeitung: Herr Ministerpräsident, die Bibel steckt voller Geschichten von Flucht und Vertreibung. Findet sich auch eine Variante von politischem Asyl?

Winfried Kretschmann: Der Kindermord von Betlehem. Ein Engel erscheint Josef und sagt ihm, dass er mit Maria und dem Kind nach Ägypten fliehen soll, weil der Machthaber Herodes hinter Jesus her ist. Das ist der klassische Fall von politischer Verfolgung. Herodes fürchtete um seinen Thron. Das war nach den Besuch der drei Könige aus dem Morgenland, die nach dem neu geborenen König der Juden gefragt hatten.

Wir dürfen aufatmend feststellen: Jesus hätte auch in der Bundesrepublik Deutschland Asyl erhalten.

Kretschmann: Ganz eindeutig.

Es gab auch frühe Wirtschaftsflüchtlinge. Abraham verlässt das Land Kanaan, weil Hungersnot herrschte: „Da zog Abraham nach Ägypten hinab, um dort als Fremder zu leben, denn die Hungersnot lag schwer auf dem Land“, heißt es im Buch Genesis. Und immer war Ägypten das Ziel.

Kretschmann: Das war ein wohl geordnetes Gemeinwesen. Reichtum und Bürokratie sind ja miteinander gekoppelt. Das sage ich immer, wenn sich die Leute über zu viel Bürokratie beschweren. Ich verweise dann auf das pharaonische Ägypten. Die Ägypter haben die ersten Bürokraten gehabt, die haben sich ordentlich organisiert.

Bei den Grünen ist es unschicklich, zwischen politisch Verfolgten und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden. Die Ansage lautet: Es gibt keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse. Sind Sie in dieser Frage bei Ihrer Partei oder halten Sie diese Position für naiv?

Kretschmann: Zunächst einmal ist sie nachvollziehbar. Im praktischen Leben sind politische Verfolgung und wirtschaftliche Fluchtgründe nicht immer klar zu trennen. Dennoch gibt es einen systematischen Unterschied: Das politische Asyl ist ein Grundrecht, alles andere ist eine moralische Verpflichtung. Wenn wir politisch Verfolgte aufnehmen, dann gewähren wir keinen Gnadenakt, sondern garantieren ein Grundrecht. Dieser Rechtsanspruch ist eine gigantische zivilisatorische Errungenschaft.

Das stellt auch niemand in Frage.

Kretschmann: Schon. Man muss sich aber gewärtigen, was daraus folgt. Für politisch Verfolgte ist das Boot nie voll. Grundrechte sind nicht quantitativ begrenzt. Wie wir das praktisch umsetzen, wenn immer mehr Menschen kommen, werden wir noch sehen. Aber Grundrechte sind nicht verhandelbar. Das Grundgesetz begründet eine Hierarchie, die sinnvoll ist. Das ist ein großer Schutz von politisch Verfolgten: dass sie nicht der Frage unterliegen, ob wir ihre Aufnahme bewältigen können.

Also gibt es eine Hierarchie, in der politisch Verfolgte vor den anderen stehen, die man ja nicht Wirtschaftsflüchtlinge nennen muss, sondern auch als Menschen sehen kann, die nach einem besseren Leben suchen. Ihre Partei zieht diesen Trennungsstrich nicht.

Kretschmann: Ja, diesen Unterschied muss man machen. Aber keinen Trennungsstrich, man sollte Wirtschaftsflüchtlingen durch ein Einwanderungsgesetz eine Perspektive geben. Ich finde dafür viel Unterstützung in meiner Partei.

Aber nicht durchweg.

Kretschmann: Dass Menschen aus anderen Gründen als politische Verfolgung einwandern, stößt auf Schranken. Das Maß dafür ist die Integrationskraft einer Gesellschaft. Es gab Zeiten, da forderte meine Partei offene Grenzen für alle. Das mussten sie korrigieren, weil man damit das eigene Gemeinwesen aufgibt. Wenn alle ins Gelobte Land kommen, brechen in kürzester Zeit die Strukturen zusammen und man erreicht das Gegenteil der integrationsfähigen Gesellschaft, nach der wir streben.

Sie entstammen einer Familie, die ebenfalls Flucht erlebte.

Kretschmann: Meine Eltern sind aus Ostpreußen geflüchtet und waren dann lange in Dänemark interniert. Ein älterer Bruder ist als Säugling auf der Flucht gestorben. Meine beiden älteren Geschwister wurden noch in Ostpreußen geboren, ich kam in Spaichingen zur Welt. Aus der frühen Kindheit blieb mir in Erinnerung, dass wir arme Flüchtlinge waren, die in wenig komfortablen Unterkünften hausten – bis mein Vater dann die erste Lehrerstelle bekam.

Haben Sie noch die Ablehnung erlebt, die Flüchtlingen vielfach begegnete?

Kretschmann: Ich selbst nicht mehr, aber mein älterer Bruder. Er konnte nicht Ministrant werden. Die Sprache ist etwas ganz Wichtiges in einem Integrationsprozess, und ich war das erste Kind in der Familie, das schwäbisch gesprochen hat: zuhause hochdeutsch, außerhalb schwäbisch. Meine Oma hat zeitlebens gehadert, dass sie in Deutschland lebte und die Leute nach ihrer Auffassung nicht Deutsch redeten.

Kann ein Politiker, der sich in einer christlichen Verantwortung sieht, sich so einfach auf die verfassungsrechtliche Kategorie des Asylrechts zurückziehen? Barmherzigkeit, Caritas oder – aufklärerisch gewendet – Humanität lassen sich nicht darauf begrenzen.

Kretschmann: Das Eigene des Christentums liegt in der Erkenntnis: Der Fremde ist dein Nächster, nicht nur dein Verwandter oder dein Freund. Das ist ein christlicher und zugleich universal gültiger Gedanke, mit dem unsere Verfassungsordnung imprägniert ist. Es gibt Industrieländer, die nahezu keine Einwanderung zulassen, zum Beispiel Japan, da fehlt die christliche Imprägnierung. Im Übrigen erschöpft sich unser Tun ja nicht im Asylrecht. Ich plädiere, was den Balkan betrifft, für legale Einwanderungsmöglichkeiten: für Ausbildungs- und Beschäftigungskorridore bei uns. Wir wollen Perspektiven geben, die wichtigste Perspektive aber lautet: Fluchtursachen bekämpfen.

An einer Stelle haben Sie christliche Verantwortung ziemlich eigenwillig wahrgenommen – mit ihrer Entscheidung, jesidische Frauen aus dem Nordirak aufzunehmen. Oder war das doch ein Schachzug zur Besänftigung ihrer Partei oder zur Bildung eines positiven Images?

Kretschmann: Das war schlicht ein menschlicher Impuls. Die Landtagsfraktion befand sich in Berlin auf Klausur. Es gab ein Treffen mit Vertretern dieser Religionsgemeinschaft. Bei dieser Gelegenheit wurde mir ein Fotobuch gezeigt, das ich gar nicht wirklich anschauen konnte, weil es Grausamkeiten wie aus einem Horrorfilm zeigte. Furchtbare Verbrechen, begangen von IS-Kämpfern an Jesidinnen im Nordirak.

Wer an einem Sommersamstag über die Stuttgarter Königstraße spaziert, der bewegt sich nicht mehr in einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, der begegnet Menschen aus aller Welt. Ist das nun toll, weil ein Zeichen von Weltoffenheit und Ausdruck von Vielfalt? Oder führt das zum Gefühl der Fremdheit im eigenen Land?

Kretschmann: Zunächst einmal ist diese Vielfalt ein Faktum. Weshalb Menschen in Afrika schwarz sind, lässt sich evolutionsbiologisch gut erklären; für das Zusammenleben hat die Hautfarbe keine Bedeutung. Fremdheitsgefühle beim Anblick von Menschen mit dunkler Hautfarbe oder anderen uns fremden Merkmalen müssen wir kulturell überwinden. Das bedarf einer gewissen Anstrengung, aber solche Gefühle haben keine rationale Grundlage und führen nur zu Rassismus. Es gibt keine deutsche Leitkultur mit Ausnahme der Sprache. Und die kann man lernen.

In den Medien ist die derzeit am häufigsten ventilierte Frage: Wann kippt die Stimmung. Also Herr Kretschmann: Wann kippt die Stimmung?

Kretschmann: Im Augenblick kippt gar nichts. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass fremdenfeindliche Argumentationsmuster auftauchen. Natürlich kann sich die bisher bewundernswert positive Stimmung der Bevölkerung an Orten mit vielen Flüchtlingen drehen. Da geht es aber um benennbare Stressfaktoren, wie kulturelle Unterschiede oder Verhaltensweisen, die wir nicht akzeptieren. Das muss man schon sehen, sonst würde man das Bild rosa malen. Generelle Fremdenfeindlichkeit nehme ich jedoch nicht wahr. Das kann sich ändern, wenn Intellektuelle daherkommen, die in so einer Stresssituation fremdenfeindliche Denkfiguren liefern, dann kann es kippen. Aber das sehe ich nicht, und ich werde weiterhin alles unternehmen, dass die Stimmung so positiv bleibt.

Die Fragen stellte Reiner Ruf.

Quelle:

Stuttgarter Zeitung
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