Interview

„Auch der Islam steht unter dem Gesetz“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bild: © dpa)

Ministerpräsident Winfried Kretschmann verteidigt in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung das Recht auf freie Religionsausübung – und den säkularen Staat.

Bundesinnenminister Horst Seehofer entfachte mit seiner Äußerung zum Islam, der nicht zu Deutschland gehöre, eine alte Diskussion neu. Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann versucht eine Positionsbestimmung.

Stuttgarter Zeitung: Herr Ministerpräsident, gehört der Islam zu Deutschland?

Winfried Kretschmann: Ja, ganz offensichtlich. Da Millionen Muslime in Deutschland leben, gehört auch der Islam zu Deutschland. Hilfreich ist ein Blick in die Verfassung. Wir sind ein Staat, der Religionsfreiheit garantiert – nicht nur Glaubensfreiheit, sondern auch Bekenntnisfreiheit und ungestörte Religionsausübung. Das bedeutet: Jede Religion, der ein Bürger in diesem Land anhängt, gehört zu Deutschland. Alles andere wäre ein unauflösbarer Widerspruch.

In einem solchen hat sich ihr früherer Ministerpräsidentenkollege Horst Seehofer, jetzt Bundesinnenminister, verfangen: Die Muslime gehören dazu, der Islam nicht, findet er.

Kretschmann: Wenn man weiter verfolgt, was er gesagt hat, dann erklärt er seine Haltung: Nicht der Islam habe Deutschland geprägt, sondern das Christentum. Das ist fraglos richtig. Diese kulturelle Prägekraft ist vom Bundesverfassungsgericht auch anerkannt. Alles, worin diese Prägung ihren Ausdruck findet, ist in besonderer Weise geschützt. Deutlich wird das bei den Sonn- und Feiertagen. In der Verfassung heißt es: Sie bleiben geschützt. Es heißt nicht: Sie sind geschützt.

Führen Sie diese subtile Unterscheidung bitte näher aus.

Kretschmann: Der Staat übernimmt die christlichen Feiertage, die er als säkulare Demokratie bereits vorfindet, er schafft aber keine neuen. Das kulturelle Gut bleibt. Wir werden auch den Muslimen keine neuen gesetzlichen Feiertage geben, ich jedenfalls nicht. Das ist ein Traditionselement der Mehrheit, die dieses Land geprägt hat. Ein anderes Beispiel: Wer gegen das Glockenläuten klagt, verliert den Prozess; immer! Unsere Verfassungsordnung hat mehrere Quellen, darunter die christliche Tradition. Die wollen wir pflegen.

„Es gibt Religionsfreiheit nur unter, nicht über dem Gesetz“

Das bedeutet, Muslime sollen Muslime im Stillen sein. Sie dürfen als solche nicht sichtbar werden, um die christliche Grundierung des Gemeinwesens nicht zu stören.

Kretschmann: Nein, das wäre ganz falsch, denn das Grundgesetz schützt ausdrücklich die Bekenntnisfreiheit. Ich darf meinen Glauben leben und zeigen, ich darf auch für ihn werben. Allerdings in den Schranken der Gesetze. Das ist das Entscheidende. Es gibt Religionsfreiheit nur unter, nicht über dem Gesetz. Dies unterscheidet den Islam vom Islamismus. Deshalb gehört der Islam zu Deutschland, der Islamismus nicht.

Unbestreitbar hat der Islam ein Demokratieproblem.

Kretschmann: Die meisten Muslime kommen aus Ländern zu uns, in denen es die Trennung von Staat und Kirche nicht gibt. Diese Trennung ist für alle Verfassungsstaaten existenziell. Religionsfreiheit gibt es gar nicht, wenn der Staat sich auf die Seite einer Religion schlägt. Sie gibt es nur, wenn der Staat neutral bleibt. Neutral bedeutet aber nicht, die Religion in die Privatsphäre abzudrängen, sondern darauf zu achten, dass sich die Religion frei von staatlichen Einflüssen, jedoch in den Schranken der allgemeinen Gesetze entfalten kann. Wir sind ein säkularer Staat, aber kein laizistischer Staat.

Vorbehalte gegen den Islam, wie sie auch in der Äußerung von Herrn Seehofer Ausdruck finden, richten sich doch auch gegen einen Islam, der innerhalb der Gesetze agiert. Sie sollen den Islam als solchen treffen.

Kretschmann: Diese Vorbehalte haben eine Ursache. Das Bild vom Islam wird zunehmend geprägt durch fundamentalistische, ja terroristische Strömungen. Muslime müssen zeigen, dass von ihren religiösen Orten Friede ausgeht – und dass nichts gepredigt wird, was gegen die Verfassung verstößt. Sie müssen glaubhaft machen, dass sie eine freie Religion in einer freien Gesellschaft sind – und nicht von außen gesteuert werden, aus Saudi-Arabien oder vom türkischen Präsidenten Erdogan.

So wie Ditib, der Dachverband der türkisch- islamischen Moscheegemeinden.

Kretschmann: Ditib muss unabhängig von der türkischen Regierung werden. Sie dürfen kein verlängerter Arm sein. Im Grundgesetz steht: Es besteht keine Staatskirche. Nicht vom deutschen Staat, erst recht besteht keine Staatsmoschee von ausländischen Staaten.

„Der Islam muss sich reformieren“

Halten Sie das Ziel für realistisch, zu einem europäischen Islam zu kommen im Sinne eines aufgeklärten, toleranten und Pluralität bejahenden Islam?

Kretschmann: Der Islam muss sich insgesamt reformieren, nicht nur in Europa. Er muss sich von extremistischen Strömungen reinigen. Die Welt insgesamt braucht keine Religionen, aus denen heraus Gewalt gepredigt wird oder gar Terror.

Es ist ja nicht so, dass man als kulturchristlich geprägter Bürger unablässig über den Islam stolpert. Weshalb stößt ein Verdikt gegen Islam, wie es Seehofer äußerte, auf so große Resonanz?

Kretschmann: Dahinter stecken auch Überfremdungsängste, die sehr diffus sind. Das macht sie instrumentalisierbar für Populisten und Polarisierer. In der zweiten und dritten Generation tragen nur noch 20 Prozent der Musliminnen ein Kopftuch. Aber nur die erkennen wir. Dass die große Mehrheit kein Kopftuch trägt, nehmen wir nicht wahr. Durch die Migration sind die Überfremdungsängste gewachsen. Dagegen ist schwer anzukommen. Das können wir, indem wir Probleme lösen. Parallel nimmt die Prägekraft des Christentums ab. Das führt zu Identitätsdiskursen. Die Gesellschaft sucht nach Selbstvergewisserung.

Heißt das, dass das Konzept des Verfassungspatriotismus allein nicht trägt? Lebt der Verfassungsstaat – im Sinne des Staatsrechtlers Böckenförde – von Voraussetzungen, die er selbst nicht Zum Inhaltsverzeichnis gewährleisten kann?

Kretschmann: Zunächst: Der Verfassungspatriotismus ist nötiger denn je. Er ist die verbindliche Klammer. Ihn sollten wir kräftig pflegen. Aber das genügt nicht. Der Verfassungspatriotismus ist etwas für den Kopf, nicht so sehr fürs Herz. Das Herz wird von kulturellen Prägungen geleitet. Jetzt kann man die Dinge umdrehen und sagen, jede Religion muss sich inkulturieren, also in die gegebene Kultur einfügen. Die Gesellschaften säkularisieren sich; nur wenn eine Religion inkulturiert, hat sie überhaupt Einfluss. Glaube muss sich im Horizont einer von Wissenschaften dominierten Welt behaupten. Deshalb gehört zu den großen Herausforderungen aller Religionsgemeinschaften, Glaube und Vernunft nicht gegeneinander zu setzen. Umgekehrt muss eine liberale Gesellschaft damit umgehen, dass es Leute jedweder Provenienz gibt, die ein orthodoxes Leben führen. Das können religiös-orthodoxe Menschen sein, aber wir haben jetzt zum Beispiel mit den Veganern eine zivile Art von Weltanschauung. Auch damit müssen wir uns auseinandersetzen.

Salad bowl statt melting pot

Nämlich wie?

Kretschmann: Wir hingen lange Zeit dem Leitbild des „melting pot“ an: Im Schmelztiegel assimilieren oder integrieren sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Dahinter steckte eine etwas bequeme Art von Liberalität. Man dachte, Toleranz heiße, denjenigen zu erdulden, der ungefähr auch so denkt wie man selbst. Das ist vorbei. Heute müssen wir von der „salad bowl“ ausgehen: Wir haben eine Schüssel, das ist unsere Verfassungsordnung, und darin herrscht Buntheit. Diese Buntheit zusammenzuhalten, kann mühsam sein, nicht nur in religiösen Fragen.

Das gilt zum Beispiel auch für rechts. Nicht jeder, der Thesen vertritt, die uns extrem missfallen, ist deshalb schon außerhalb der Verfassung. Man muss nicht der Meinung sein, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Dies zu bestreiten ist zwar nicht vernünftig aus meiner Sicht und gegen die Realität, aber jemand, der das macht, bewegt sich nicht außerhalb der Verfassung. Wer jedoch das Asylrecht infrage stellt, verlässt die Verfassung. Das liberale Bürgertum muss lernen, Meinungen zu tolerieren, die es von Herzen ablehnt. Aber das ist doch eigentlich erst Toleranz: das zu ertragen, was uns nicht gefällt und was wir ganz anders sehen.

Das Gespräch führte Reiner Ruf.

Quelle:

Das Interview erschien am 29. März 2018 in der Stuttgarter Zeitung.
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