Interview

Asylanträge schneller bearbeiten

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Bild: © dpa)

Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert im Focus-Interview vom Bund eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge. „Das Wichtigste ist, die Dauer der Asylverfahren zu verkürzen.“ Die Bundesregierung habe eine deutliche Aufstockung des Personals angekündigt. „Davon ist bei uns aber noch fast nichts angekommen. So ist viel Zeit verloren gegangen.“ Um das Asylverfahren zu entlasten, plädiert Kretschmann dafür, für Menschen vom Westbalkan Ausbildungs- und Beschäftigungskorridore zu schaffen.

Focus: Die Bundesregierung rechnet mit 800.000 Asylbewerbern in diesem Jahr. Ist das Boot voll?

Winfried Kretschmann: Ich mag dieses Bild vom vollen Boot nicht. Nach dem Krieg hat Deutschland 14 Millionen Flüchtlinge aufgenommen und hervorragend integriert. Von einer solchen Zahl sind wir noch sehr weit entfernt. Außerdem ist das Recht auf Asyl ein Grundrecht und kein Gnadenakt, den wir gewähren.

Eine große Gruppe der Asylbewerber ist nicht politisch verfolgt.

Kretschmann: In der Tat müssen wir unterscheiden zwischen denen, die politisch verfolgt werden und anderen, die aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit kommen.

Damit haben sich gerade die Grünen immer sehr schwergetan.

Kretschmann: Man sollte die Dinge jetzt nicht ideologisch sehen, und zwar auf allen Seiten. Das Wichtigste ist, die Dauer der Asylverfahren zu verkürzen. Das ist viel wichtiger als zum Beispiel die Debatte über das Taschengeld für Asylbewerber. Wenn die Menschen ein Bleiberecht haben, begegnen wir ihnen mit unserer Willkommenskultur. Die, die kein Bleiberecht haben, müssen zurückkehren - freiwillig oder von uns rückgeführt. Deshalb müssen die Verfahren drastisch verkürzt werden. Das habe ich schon lange angemahnt.

Hat die Bundesregierung geschlafen?

Kretschmann: Wir zählen 235.000 unbearbeitete Asylverfahren, im Schnitt dauert ein Verfahren derzeit 5,4 Monate. Ich selbst habe der Kanzlerin schon im Sommer vorigen Jahres geschrieben und auf eine Lösung gedrängt. Alle Ministerpräsidenten haben im vergangenen Oktober dringend mehr Personal für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefordert. Aber erst vor wenigen Monaten hat die Bundesregierung dann eine deutliche Aufstockung des Personals angekündigt. Davon ist bei uns aber noch fast nichts angekommen. So ist viel Zeit verloren gegangen.

Sie haben vorgeschlagen, die Syrer aus dem Asylverfahren zu nehmen, weil sie praktisch zu 100 Prozent als Flüchtlinge anerkannt werden.

Kretschmann: Das stimmt. Und die Überlegung wurde von der Bundesregierung mit Interesse aufgenommen. Über die genauen Modalitäten muss man natürlich reden. Sicherlich braucht es, neben der üblichen gesundheitlichen Untersuchung, zwingend eine Identifizierung und eine erkennungsdienstliche Behandlung - eine umfassende Sicherheitsüberprüfung also. Maßnahmen, die auch jetzt schon dem Asylverfahren vorgeschaltet sind. Denn wir können nicht das Risiko eingehen, dass Terroristen vom Islamischen Staat als Flüchtlinge nach Deutschland kommen.

Hat sich das individuelle Grundrecht auf Asyl nicht überlebt? Wäre es nicht konsequent zu sagen, man nimmt die Syrer aus dem Asylverfahren, weil sie anerkannt werden, und die Menschen vom Balkan, weil sie nicht anerkannt werden?

Kretschmann: Das geht nicht. Das Grundrecht auf Asyl ist ein im Grundgesetz verankertes individuelles Grundrecht.

Das Grundgesetz ist schon einmal geändert worden, weshalb unter dem Druck der großen Zahlen nicht eine weitere Änderung? Nach dem Motto: Deutschland gewährt Asyl, und die Einzelheiten regeln die Gesetze.

Kretschmann: Ich halte nichts davon, dauernd am Grundgesetz herumzudoktern. Die meisten Änderungen haben unserem ursprünglichen Grundgesetz nicht gutgetan. Ich halte es da eher mit den Amerikanern, die sehr viel zurückhaltender sind mit der Überarbeitung ihrer Verfassung. Das Grundrecht auf Asyl ist eine historische Errungenschaft ersten Ranges, eine humanitäre Verantwortung, die auch aus unserer Geschichte erwachsen ist. Das, worauf es jetzt ankommt, können wir sehr pragmatisch lösen über kürzere Verfahren und europäische Regelungen.

Vor allem die Union drängt darauf, mehr Länder als bisher zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Ist das mit Ihnen machbar?

Kretschmann: Ich bin dafür offen, wenn die Bundesregierung belegen kann, dass das sinnvoll ist, dass also die Zahl der Asylbewerber aus diesen Ländern dann sinkt und sich dadurch die Verfahrensdauer relevant verkürzt. Allerdings verstehe ich die Fokussierung von Unionspolitikern auf das Thema sichere Herkunftsländer nicht. Die vorliegenden Zahlen deuten nicht auf einen spürbaren Effekt hin. Das ist nicht verwunderlich, schließlich hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es auch für Bewerber aus sicheren Herkunftsländern ein individuelles Verfahren geben muss. Wichtiger ist es, den Menschen in den Balkanländern deutlich zu machen: Der Weg nach Deutschland über das Asylrecht endet für euch in einer Sackgasse.

Aber Sie wollen doch Einwanderung aus dem Balkan möglich machen?

Kretschmann: Ja, aber nicht über das Asylrecht. Wir sollten für diese Balkan-Staaten Ausbildungs- und Beschäftigungskorridore schaffen. Damit haben hochmotivierte Menschen vom Balkan bei uns eine Chance, zum Beispiel in der Pflege und anderen Mangelberufen. Das fordert auch unsere Wirtschaft.

Wie wollen Sie es hinkriegen, dass nur wirklich Qualifizierte zu uns kommen?

Kretschmann: Wir sollten dort auf dem Balkan in den einzelnen Ländern Büros einrichten. Die Qualifikationsanforderungen müssen den Leuten vor Ort klar dargelegt werden. Wir brauchen maßgeschneiderte Lösungen. Vorbild ist für mich, wie wir es in Deutschland vor vielen Jahren mit den sogenannten Gastarbeitern gemacht haben. Auch in der Vergangenheit haben wir schließlich Menschen aus Jugoslawien erfolgreich integriert. Neulich sagte ein Mittelständler zu mir: „Ihr werdet doch bei den Asylbewerbern ein paar Schweißer für mich finden!“, und die Handwerker sagen mir: „Schickt doch nicht die besten Leute wieder weg.“ Die Gastwirte im Schwarzwald und am Bodensee klagen, dass Flüchtlinge nicht als Köche angestellt werden können, weil dieser Beruf in Deutschland nicht zum Mangelberuf erklärt worden ist. Darüber müssen die Länder mit der Bundesregierung reden. Außerdem gehört der Balkan zu Europa.

Sie spielen auf das geostrategische Interesse Deutschlands und Europas an, ähnlich wie im Fall Griechenland und der Euro-Rettung?

Kretschmann: Hier sind auch ganz andere Kräfte am Werk. Ich sage nur: Putin. Wir müssen alles tun, damit sich die Verhältnisse in den Herkunftsländern verbessern, damit die Menschen keinen Grund mehr haben, ihre Heimat zu verlassen. Hier muss Brüssel sich engagieren und Druck machen.

Nach dem Motto: Ihr Serben, Kosovaren und Albaner kommt nur in die Europäische Union, wenn ihr den Sinti und Roma in euren Ländern Minderheitenrechte gebt.

Kretschmann: Es geht darum, die Diskriminierung dort zu beenden, wie übrigens auch in EU-Staaten wie Ungarn und Rumänien. Aber die EU muss es auch als eine ihrer Aufgaben betrachten, diesen Ländern wirtschaftlich auf die Beine zu helfen.

Tut Brüssel in der Flüchtlingspolitik nicht genug?

Kretschmann: Brüssel macht hier eindeutig zu wenig. Außerdem kann es auf Dauer nicht angehen, dass Deutschland und Schweden die Hälfte der Flüchtlinge aufnehmen. Wie Europa mit den Asylbewerbern umgeht, ist auch eine Frage seiner Werte, und die kann man nicht nur in Sonntagsreden beschwören.

Der britische Premier Cameron macht auch montags und dienstags seine Insel für Asylbewerber unter Absingen schmutziger Lieder dicht.

Kretschmann: Ich mache hier keine Außenpolitik, aber Sie können sich ja denken, wie kritisch ich das bewerte. Wir müssen zu einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge in Europa kommen. Die Dublin-Regelung, nach der Asylbewerber ihre Anträge in dem Land stellen müssen, das sie als erstes in Europa betreten, funktioniert überhaupt nicht mehr. Und ist aus einer reinen Abwehrhaltung entstanden.

Beim Euro und bei den Flüchtlingen erleben die Deutschen, dass sich andere Länder nicht an die Spielregeln halten und wir die Kastanien aus dem Feuer holen müssen. Haben Sie Verständnis, wenn in der Bevölkerung die Skepsis über Europa wächst?

Kretschmann: Dafür habe ich Verständnis. Das macht Europa alles andere als attraktiv. Ich bin wirklich ein Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa, aber Europa muss sich föderal organisieren, also nach dem Prinzip der Subsidiarität. Wozu brauchen wir 28 Außenminister? Wenn wir gegen die USA und China bestehen wollen, müssen wir nationale Kompetenzen, etwa in der Außenpolitik, an Europa abtreten. Andererseits: Warum muss uns Brüssel vorschreiben, ob wir städtische Wohnungen verkaufen, das können wir nun wirklich vor Ort am besten beurteilen.

Vor 25 Jahren war die Stimmung in Deutschland gegenüber Asylbewerbern viel feindseliger. Was hat sich geändert?

Kretschmann: In dieser Frage jedenfalls hat sich alles zum Positiven hin verändert. Die Menschen erleben hautnah, dass sie in einer globalisierten Welt leben. Jeder in Baden-Württemberg weiß, dass wir hier zu zwei Dritteln vom Export leben. Unsere Kinder gehen selbstverständlich ins Ausland und pflegen Verbindungen weltweit. Sie machen in allen Ländern freiwillig ein Soziales Jahr. Ich staune beinahe jeden Tag, wie europäisch die Liebesverhältnisse sind. Meine Tochter ist mit einem Schotten verheiratet. Heute engagieren sich sehr viele Menschen ehrenamtlich für die Flüchtlinge. Wenn sie sich aufregen, dann nicht über Asylbewerber, sondern über die alltäglichen Probleme: Zum Beispiel werden meine Kinder noch richtig gefördert, wenn zu viele Flüchtlinge in der Klasse sind?

Wie wollen Sie das lösen?

Kretschmann: Wir richten derzeit zügig Förderklassen ein, in denen die Flüchtlinge erst einmal Deutsch lernen können, bevor sie mit anderen Kindern gemeinsam unterrichtet werden. Für die Vorbereitungsklassen für Flüchtlinge wurden zusätzliche 400 Deputate beschlossen, und wir investieren fast 2,5 Millionen Euro für Maßnahmen im vorschulischen Bereich.

Kann die jetzt grundsätzlich positive Stimmung gegenüber den Asylbewerbern noch kippen?

Kretschmann: Natürlich kann das passieren, aber ich sehe keine Anzeichen dafür. Meine These lautet: Solange die demokratischen Parteien zusammenbleiben und lösungsorientiert arbeiten, wird die Stimmung nicht kippen. Sobald aber Populismus aufkommt, kann sich das schnell ändern. Beim letzten Kompromiss waren von Bodo Ramelow bis Horst Seehofer über die Kanzlerin alle dabei. Das ist schon eine sehr respektable Leistung.

Bei der Wiedervereinigung hieß es: Deutschland wird östlicher und protestantischer. Werden wir jetzt über die große Einwanderung jünger und südlicher?

Kretschmann: Wir sind ein sehr ziviles Land, wo nationalistisches Denken ein Randphänomen ist. Schwarzrotgoldene Fahnen wehen bei der Fußballweltmeisterschaft - in heiterer, ausgelassener Stimmung. Der Islam gehört zu Deutschland. In hohem Tempo führen wir an baden-württembergischen Schulen Islamunterricht ein. Und schauen Sie, wie heute Homosexuelle akzeptiert sind. Deutschland ist sehr liberal geworden, wobei man, das weiß jeder, immer am Erhalt der Liberalität arbeiten muss.

Wenn man Ihnen so zuhört: Was unterscheidet Ihren Politikstil von dem Frau Merkels?

Kretschmann: Ich lege es nicht auf einen Unterschied zu Angela Merkel an. Wir verstehen uns gut.

Die Fragen stellten Beate Schindler und Ulrich Reitz.

Quelle:

Focus
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