Interview

„Abhängigkeit vom Ausland reduzieren“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview in der Bibliothek des Staatsministeriums in Stuttgart (Bild: © dpa).

Deutschland und die Europäische Union müssen drastische Lehren aus der Corona-Krise ziehen. Das sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Telefoninterview mit der Schwäbischen Zeitung. Er fordert etwa, bei Medizinprodukten die Abhängigkeit vom Ausland zu reduzieren.

Herr Ministerpräsident, wann haben Sie Ihre Enkel zum letzten Mal getroffen?

Winfried Kretschmann: Das ist sicher schon drei Wochen her, auf jeden Fall viel zu lange. Aber ich mache jetzt relativ häufig mit ihnen Videotelefonie. Ich bin froh, dass es solch einen Ersatz gibt, dass man sich wenigstens sehen kann. Vorgestern habe ich ihnen dabei etwas vorgelesen.

Wie arbeiten Sie in diesen Tagen, was vermissen Sie am meisten?

Kretschmann: Man telefoniert sich jetzt das Ohr ab, von morgens bis nachts. Ich habe eh immer ein bisschen Probleme mit meiner Stimme, das nimmt dann natürlich zu. Der neue Alltag ist schon gewöhnungsbedürftig.

Gesprächsrunden mit meinen Kollegen am Tisch sind mir wichtig und am Ende auch nicht zu ersetzen. Bei den Telefonkonferenzen fehlt der spontane Schlagabtausch, weil man den anderen auch nicht sieht. Allerdings sind die Runden dadurch konzentrierter.

Wie lange müssen wir noch mit diesen Einschränkungen leben?

Kretschmann: Das können wir heute noch nicht sagen. Wir sind erst am Anfang der Krise. Die Maßnahmen, die wir getroffen haben, wirken mit einem erheblichen Verzug. Der Wunsch nach Öffnung ist verständlich, aber auf Basis der derzeitigen Faktenlage seriös noch nicht planbar. Man kann aber sicher sagen: Spätestens mit einem Impfstoff kann man die Krise beenden.

Wann könnte es solch einen Impfstoff geben?

Kretschmann: Ich habe die Firma CureVac in Tübingen besucht, die an einem Impfstoff arbeitet. Wenn alles optimal läuft, könnte es im Herbst ein Mittel geben. Das ist aber noch nicht belastbar. Parallel wird natürlich an Wirkstoffen geforscht, also an Medikamenten, die bei Erkrankten wirksam eingesetzt werden können.

So laufen derzeit Untersuchungen an der Uni Tübingen mit Medikamenten, die den Verlauf der Krankheit eventuell abmildern. Hierzu könnten vielleicht in wenigen Monaten Ergebnisse vorliegen. Bei all dem ist aber die Hoffnung der Vater des Gedankens.

Manche Ihrer Amtskollegen mahnen bereits, über Lockerungen nachzudenken. Sie auch?

Kretschmann: Ich halte davon nichts. Wir wissen noch zu wenig. Wir sehen jetzt etwa, dass auch junge Menschen schwere Krankheitsverläufe haben können, was man anfangs nicht dachte. Und noch ist die Infektionsrate nicht entscheidend geringer geworden.

Es fehlt die Entscheidungsgrundlage, da sehen wir in zehn Tagen sicher klarer. Jetzt rate ich allen, sich um die vier wichtigsten Fragen zu kümmern: Wie können wir mehr testen? Wie erhöhen wir die Bettenzahl? Wie erhöhen wir die Zahl der Beatmungsgeräte? Wie bekommen wir mehr Schutzausrüstung? Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Wir sollten jetzt keine falschen Hoffnungen durch luftige Debatten wecken, sondern den Menschen sagen: Wir brauchen eure eiserne Geduld.

Was erwarten Sie noch in den kommenden Tagen und Wochen – wird es in unseren Kliniken Bilder wie in Italien geben?

Kretschmann: Genau das gilt es zu verhindern. Deshalb verwenden wir unsere ganze Kraft darauf, die Infektionsrate zu senken und zugleich unsere Kapazitäten hochzurüsten. Wir widmen Rehakliniken um für Menschen, die einen mittelschweren Verlauf haben.

Wir bitten pensionierte Ärzte um Unterstützung – 1500 haben sich schon gemeldet. Auch Medizinstudenten wollen helfen. Auf unseren Aufruf an die Wirtschaft, Komponenten für Beatmungsgeräte herzustellen, haben über 100 Firmen reagiert. Das sind die wichtigen Aufgaben, die wir haben, um Szenen wie in Italien zu vermeiden.

Aber ich will nicht verhehlen, es sind Situationen denkbar, die uns an unsere Grenzen bringen – und hoffentlich nicht darüber hinaus. Das zu verhindern, liegt bei jedem Einzelnen von uns. Wir alle müssen uns zwingend an die verordneten Maßnahmen halten. Das ist unsere gemeinsame Pflicht und Aufgabe.

Hätte man sich besser vorbereiten können?

Kretschmann: Das ist keine sinnvolle Debatte in der Krise. Wenn es brennt, löscht man und fragt nicht, wie man die Feuerwehr besser hätte vorbereiten können. Aber nach der Krise sind das sehr wichtige Debatten: In welchen Bereichen hat man nicht genügend vorgesorgt, auf welche Stimmen hat man vielleicht nicht gehört?

Drehen wir danach nur an winzigen Schräubchen, oder ziehen wir wirkliche Lehren aus der Krise? Bei so wesentlichen Dingen wie Medizinprodukten sind wir komplett vom Ausland abhängig – das müssen wir sicher ändern. Wir müssen ernsthaft diskutieren, in welchen sensiblen Bereichen sich Europa und Deutschland anders aufstellen müssen.

Je länger die Ausgangsbeschränkungen gelten, desto größer die ökonomischen Folgen. Was erwartet Arbeitnehmer und Unternehmen in Baden-Württemberg?

Kretschmann: Die Folgen werden gravierend sein, wir werden in eine Rezession kommen. Die Frage ist nur, wie lange dauert sie und wie kommen wir wieder heraus. Unsere allererste Aufgabe ist es, mit den Maßnahmen des Bundes und mit unseren beschlossenen Soforthilfen von fünf Milliarden Euro eine Insolvenzwelle zu verhindern.

Aber klar ist: Der Staat kann die Wirtschaftskraft eines Landes nicht ersetzen. Das Bruttoinlandsprodukt allein für Baden-Württemberg liegt bei über 500 Milliarden Euro. Viele Menschen werden nach der Krise ärmer sein als zuvor. Wenn wir unsere jetzt aufgenommenen Schulden tilgen müssen bei geringeren Steuereinnahmen, wird das dramatische Folgen für die Politik haben.

Wir sind aber erst mal froh, dass wir so gewirtschaftet haben, dass wir solche Rettungsschirme jetzt überhaupt aufspannen können.

Was sind das für dramatische Folgen für die Politik?

Kretschmann: Die fünf Milliarden Euro, die wir aufgenommen haben, müssen wir über zehn Jahre tilgen. 500 Millionen Euro im Haushalt weniger pro Jahr bedeutet, wir müssen Ausgaben streichen. Das ist dramatisch. Ich weiß, was das bedeutet, ich bin ja schon sehr lange im Landtag. Viele Abgeordnete kennen das gar nicht, da sie nur Zeiten ständigen Wachstums erlebt haben.

Reicht das jetzige Hilfspaket aus? Planen Sie bereits weitere Hilfen?

Kretschmann: Wenn wir merken, die Gelder reichen nicht, um die Insolvenzwelle zu verhindern, können wir den Kreditrahmen erhöhen. Das sehe ich aber derzeit nicht. Zunächst werden ja noch viele weitere Instrumente wie Steuerstundungen und Kredithilfen durch unsere Förderbanken gezogen.

Bayern war mit vielen Maßnahmen schneller als Baden-Württemberg: Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen, Soforthilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Warum hat es hier immer länger gedauert?

Kretschmann: Das ist nicht der Fall. Das ist nur gefühlt so. In der Tat haben wir die Schulen einen Tag später geschlossen, aber das war eine bewusste Entscheidung, um einen geordneten Übergang in die drei Wochen ohne Schulbesuch zu erleichtern.

Wir sind einen etwas anderen Weg gegangen. Die Bayern haben eine Ausgangsbeschränkung verordnet: ein Verbot, das Haus zu verlassen, mit vielen Ausnahmen bis hin zum Spazierengehen. Wir haben Maßnahmen zur Kontaktvermeidung beschlossen. Im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: möglichst wenig körperliche Kontakte, um die Infektionsrate zu drücken.

Bayern und wir sind durchaus vorangeprescht und in vielem auch abgestimmt. Wir mussten schneller handeln als andere Bundesländer, weil die Infektionen vor allem wegen Urlauben in Österreich in unsere Länder hineingetragen wurden.

Bundesminister Spahn hat das Infektionsschutzgesetz geändert. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat seinen Behörden weitgehende Eingriffsrechte gesichert. Auch sein Amtskollege Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen plant das. Braucht es das auch in Baden-Württemberg – etwa, um Helfer zwangszuverpflichten oder Firmen zur Produktion bestimmter Güter zu zwingen?

Kretschmann: Nein, unsere Strukturen sind belastbar und funktionieren. Wir sind sehr schnell auf eine Stabsstruktur umgeschwenkt, die sich schon in der Flüchtlingskrise bewährt hat.

Ein zentraler Lenkungsstab, der in Vertretung des Kabinetts Beschlüsse fassen kann und operative Einheiten darunter, die die Beschlüsse ausführen. Es wird nichts besser, wenn man jetzt den Katastrophenfall ausruft. Das bringt in der Sache nichts.

Sie sind ja ein großer Anhänger des Föderalismus. Funktioniert die Machtverteilung zwischen Bund, Land und Kommunen denn auch in Krisen wie dieser?

Kretschmann: Eine Föderalismusdiskussion zu führen in einer Krise ist unsinnig. Auch das macht man hinterher. Was in der Krise geändert werden musste, wurde geändert – etwa das Infektionsschutzgesetz. Der Bund hat da mehr Kompetenzen bekommen.

Wie man sich besser für solche Krisen organisiert, klärt man besser hinterher. Meiner Meinung nach bewährt sich der Föderalismus gerade in so einer Situation. Jeder Landrat oder Oberbürgermeister ist es gewohnt, eigenständig zu handeln.

Insofern erlebe ich den Föderalismus eher als hochgradig produktiv. Es gibt schließlich auch regionale Unterschiede. Denken sie an die USA: Was wäre, wenn sich Gouverneure dort nicht Trump entgegengestellt hätten?

Eigenverantwortliches Handeln heißt aber auch, dass im Zweifel Länder oder sogar Landräte um die gleichen knappen Güter kämpfen – etwa um Medizinprodukte. Bräuchte es da nicht mehr zentrale Steuerung in Deutschland, vielleicht sogar EU-weit?

Kretschmann: Die letzte Ministerpräsidentenkonferenz hat eineinhalb Stunden gedauert, dann war man sich einig. Das war eine Leistung. Föderalismus in der EU funktioniert indes nicht, das ist ja das große Drama.

Die Krise legt die Schwächen Europas drastisch offen. Europa muss besser zusammenarbeiten – beim Umgang mit Flüchtlingen, beim Klimaschutz, aber auch in so einer Gesundheitskrise.

Nutzen Söder und Laschet die Krise für den Wahlkampf um die Spitzenkandidatur der Union? In der Ministerpräsidentenkonferenz, die Sie soeben als Erfolgsbeispiel für Föderalismus herangezogen haben, soll es ja auch heiß hergegangen sein.

Kretschmann: Dass Söder und Laschet heftig gestritten hätten, ist ein Märchen. Ich war ja dabei. Es gab ein kleines Gehakel am Anfang, aber man war sich schnell einig. Ich würde niemandem unterstellen, da parteitaktische Wege einzuschlagen.

Bayern, Sachsen und das Saarland gehen den Weg der Ausgangsbeschränkung, wir anderen den der Kontaktvermeidung. Das sind unterschiedliche administrative Wege, im Ergebnis sind sie aber weitgehend gleich.

In der Debatte um Soforthilfen entstand der Eindruck, die Grünen hätten gegenüber der CDU klein beigegeben. War das so?

Kretschmann: Der Eindruck ist nicht richtig. Wir mussten uns zunächst mit dem Bund abstimmen, das hat ein paar Tage gedauert. In der Sache hatten wir in der Koalition keine Differenz. Den Antrag, eine Naturkatastrophe auszurufen, habe ich ja selbst im Landtag eingebracht. Ich glaube, wir sind alle zusammen ordentlich und geschlossen aufgestellt in der Krise. Alles muss zügig gehen, aber nicht kopflos.

Wie groß ist der Druck, den Sie selbst in der jetzigen Situation verspüren?

Kretschmann: Der Druck ist gewaltig. Wir haben für eine Pandemie dieser Art keine Blaupause. Man muss oft auf Sicht fahren. Auch die Wissenschaft ist sich nicht immer einig, was der nächste Schritt sein soll. Dabei kann man auch Fehler machen. Und wenn man schwere Fehler in solch einer Krise macht, kann das verheerende Folgen haben. Wir haben den sehr tragischen Todesfall des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer.

Was ihn zu seinem Suizid angetrieben hat, wissen wir nicht. Aber Hessens Ministerpräsident Bouffier hat gesagt, dass ihn die Frage nach der Zukunft der Wirtschaft und des Landes extrem umgetrieben habe. Wichtig ist mir, keine Alleingänge zu machen. Man muss sich gut beraten, das ist entscheidend wichtig, und sich an der Wissenschaft orientieren.

Dabei habe ich immer im Kopf: Je rigoroser die Maßnahmen gegen das Virus, desto schädlicher für die Wirtschaft und belastender für die Menschen. Das sind schwierige Abwägungsfragen, die einen drücken. So etwa auch bei der Schließung von Kitas. Bringen die Leute ihre Kinder stattdessen dann zu den Großeltern zur Betreuung? Dann ginge der Schuss nach hinten los.

Bei vielen Entscheidungen ist man darauf angewiesen, dass die Bevölkerung einem vertraut und unsere Vorgaben befolgt. Das Gefühl habe ich und bin sehr dankbar, dass die Bevölkerung uns dieses Vertrauen entgegenbringt.

Und zum Abschluss: Machen Sie sich selbst Sorgen um Ihre Gesundheit?

Kretschmann: Wenn es mich erwischt, gehöre ich zu den Risikogruppen, das ist schon klar. Angst habe ich persönlich nicht. Die Verantwortung für das Land und die Menschen ist zu groß. Ich schlafe ehrlich gesagt in den letzten Tagen nicht gut, aber das liegt nicht daran, dass ich mir um mich Sorgen mache, sondern daran, dass ich meine Entscheidungen überdenke und hinterfrage. Und an die Zukunft denke – etwa daran, ob wir all das Material bekommen, das wir brauchen. Das hat den Vorteil, dass es die eigenen Ängste in den Hintergrund rückt.

Telefoninterview mit Katja Korf und Kara Ballarin, Schwäbische Zeitung

Quelle:

Das Interview erschien am 2. April 2020 in der Schwäbischen Zeitung.
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