Interview

„Ich freue mich, dass die Landesregierung die Bedeutung von Industrie 4.0 erkennt“

Manfred Wittenstein

Industrie 4.0 bildet eine große Chance für die Unternehmen in Baden-Württemberg, ist Manfred Wittenstein, Aufsichtsratsvorsitzender der familiengeführten Wittenstein AG, überzeugt. „Wenn wir unsere Technologielösungen für Industrie 4.0 in alle Welt verkaufen können, werden dadurch sogar neue Arbeitsplätze geschaffen.“ Wittenstein lobt die Unterstützung der Landesregierung. Die von ihr initiierte Allianz zu Industrie 4.0 sei „Gold wert“ und deutschlandweit führend.

Herr Wittenstein, was genau verbirgt sich hinter dem Schlagwort „Industrie 4.0“?

Manfred Wittenstein: Es gibt keine einheitliche Definition von Industrie 4.0. Im Kern geht es aber um die Verschmelzung von Internettechnologie und Produktionstechnologie. Die daraus folgenden Konsequenzen sind sehr, sehr umfassend und können sich in vielen Ausprägungen in Unternehmen breit machen. Das kann beispielsweise die Logistik sein, neue Produktionsabläufe, neue Produkte, neue Prozesse bis hin zu neuen Geschäftsmodellen. Mitarbeiter, die heute beispielsweise eine Maschine bedienen, bekommen neue digitale Assistenzsysteme an die Hand und werden damit vom ‚Bediener‘ zum ‚Bedienten‘. So können sie beispielsweise schneller entscheiden, ob etwa Ersatzteile bestellt werden sollen oder ob Material angefordert werden muss. Denn Werkzeuge oder Maschinenteile melden selbstständig, ob sie ausgetauscht oder gewartet werden müssen. Ein anderes Beispiel ist die verbesserte Rückverfolgbarkeit von Produkten oder Komponenten im Produktionsprozess. So sieht der Kunde direkt, in welchem Bearbeitungszustand sein Produkt ist.

Wie genau wird diese Umstellung denn ablaufen?

Wittenstein: Grundsätzlich wird bei dieser so genannten vierten industriellen Revolution nicht plötzlich alles komplett neu erfunden. Vielmehr ist Industrie 4.0 die logische Fortentwicklung dessen, was wir in der Vergangenheit schon auf den Weg gebracht haben. Das herausragend Neue ist dabei die echtzeitnahe Synchronisierung der physischen Welt mit den Modellen der digitalen Welt. Denn Digitalisierung an sich gibt es ja schon lange, auch in der Produktion. Das Entscheidende ist, dass wir über das Internet bald jedes einzelne Element in einer Fabrik ansprechen können und diese Elemente auch untereinander kommunizieren. So wird die Produktion insgesamt effizienter.

Wird die Vernetzung auch zwischen den Unternehmen stattfinden?

Wittenstein: Genau hier liegen sehr große Potentiale: In Ansätzen sind solche unternehmensübergreifenden Prozesse bereits heute an manchen Stellen umgesetzt. Werden zum Beispiel in einer Firma bestimmte Bauteile knapp, wird automatisiert Nachschub beim zuständigen Zulieferer bestellt. Mit dem vermehrten Datenaustausch zwischen Firmen werden künftig Prozesse also ungemein einfacher, schneller und besser.

Welche Chancen können sich für Baden-Württemberg durch die vierte industrielle Revolution ergeben?

Wittenstein: Laut einer aktuellen Studie erwarten die befragten Unternehmen eine Effizienzsteigerung von 3,3 Prozent pro Jahr. Mehr als ein Drittel der Unternehmen geht sogar von noch größeren Potentialen aus. Für die baden-württembergische Wirtschaft mit ihrem hohen Industrieanteil von über 30 Prozent am Bruttoinlandsprodukt eröffnen sich hier also große Chancen.

Wie sind denn die Voraussetzungen in Baden-Württemberg beim Thema Industrie 4.0?

Wittenstein: Grundsätzlich ist die Ausgangslage in Baden-Württemberg sehr gut. Hier sind alle relevanten Industrien beheimatet, allen voran die Maschinenbaubranche als der entscheidende Player in diesem Thema: Das produzierende Gewerbe ist stark, wir haben große Branchen wie die Automobilindustrie, aber auch Elektroindustrie und IT-Unternehmen. Für eine schnelle Entwicklung wird von Bedeutung sein, dass wir uns untereinander enger abstimmen, weil wir die neuen Technologien gemeinsam in unsere Prozesse und Produkte integrieren müssen. Da müssen alle Akteure zusammenarbeiten, von der Industrie bis hin zu den Gewerkschaften. Dann haben wir gute Chancen, die Wettbewerbsfähigkeit für Baden-Württemberg im internationalen Vergleich weiter zu erhöhen. Denn auch anderswo, etwa in Amerika, wird die Digitalisierung in der Produktion natürlich vorangetrieben, wenn auch mit etwas anderen Schwerpunkten.

Sind durch die effizienteren Prozesse nicht auch Arbeitsplätze gefährdet?

Wittenstein: Irgendwo geistert offenbar immer noch das Bild der mannlosen Fabrik umher. In einem so komplexen System wie einer Fabrik ist das aber ein Unding. Solche Systeme können nicht ohne Mitarbeiter gefahren werden. Was wir mit Industrie 4.0 machen, ist, dass wir die Produktion durch Assistenzsysteme für die Mitarbeiter besser machen. Für diese Assistenzsysteme müssen wir unsere Mitarbeiter qualifizieren und schulen. Es ändern sich also die benötigten Qualifikationen, aber das ist ein normaler Prozess, den wir gut organisieren können. Ich würde behaupten: die neue Herangehensweise, um Produktion zu steuern und zu führen, kann ein Alleinstellungsmerkmal für Baden-Württemberg oder auch für ganz Deutschland bedeuten. Wenn wir unsere Technologielösungen für Industrie 4.0 in alle Welt verkaufen können, werden dadurch sogar neue Arbeitsplätze geschaffen. Wir sehen also eher die Chance der Entwicklung. Und ich bin froh, dass die Landesregierung da eine ähnliche Sichtweise hat.

Ministerpräsident Kretschmann hat kürzlich im Landtag eine Regierungserklärung zum Thema Digitalisierung gehalten. Er hat damit das Thema Industrie 4.0 zur Chefsache gemacht. Wie sehen Sie das Engagement der Landesregierung?

Wittenstein: Ich freue mich, dass die Bedeutung von Industrie 4.0 von der  Landesregierung erkannt wird. Wenn Wirtschaft, Politik und Wissenschaft den Weg gemeinsam gehen, haben wir eine ganz starke Vision, die dabei hilft, unsere Ressourcen künftig richtig auszurichten. Auch die Initiative des Wirtschaftsministeriums, die vorhandenen Player in der Allianz „Industrie 4.0 BW“ zusammenzuführen, ist Gold wert. Die Initiative wird übrigens in ganz Deutschland als außergewöhnlich und führend anerkannt. Mehrere Bundesländer wollen die Idee aufgreifen. Nun gilt es, aus der Zusammenarbeit konkrete Projekte zu entwickeln, die unsere Unternehmen voranbringen.

Wenn Firmen sich untereinander vernetzen und sensible Daten austauschen, wird auch die Sicherheit der Netzwerke eine Rolle spielen. Was muss da noch getan werden?

Wittenstein: Sicherheitsfragen existieren immer, das ist vollkommen klar. Hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben. Wir müssen deshalb ein Risikomanagement entwickeln: welche Daten sind für uns wichtig, welche sind für uns weniger wichtig, und wie können wir uns im konkreten Fall schützen? Letztendlich sind beim Thema Datenschutz aber auch Bundes- und EU-Politik gefragt: dort müssen die Rahmenbedingungen reguliert werden

Was ist nun der nächste Schritt in Sachen Industrie 4.0 in Baden-Württemberg?

Wittenstein: Heute können erst wenige Elemente miteinander vernetzt werden. In zehn Jahren werden es wahrscheinlich extrem viele sein. Wir müssen bis dahin die Verhaltensweisen der traditionellen Industrie mit den Verhaltensweisen der IT-Branche koordinieren. Bisher ist die Industrie oft noch sehr zurückhaltend mit der Software-Integration, weil sie zu allererst ein zuverlässiges Produkt liefern muss. Die Software-Welt ist dagegen manchmal sehr locker. Salopp gesagt: wenn ein Bürocomputer mal abstürzt oder nicht richtig funktioniert, ist das erstmal nicht so tragisch. Wenn aber eine Maschine in der Produktion falsche Daten liefert, dann kann das sofort einen riesigen Schaden zur Folge haben. Industrie und IT müssen deshalb auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Mit der Allianz sind wir gut aufgestellt, um uns schnell austauschen zu können und voneinander zu lernen.

Dr.-Ing. E.h. Manfred Wittenstein, 1942 in Berlin geboren, studierte Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität Berlin. Mitte der 70er Jahre übernahm er die väterliche Firma in der Nähe von Bad Mergentheim an der Tauber und entwickelte sie zu einer Unternehmensgruppe, die bei Getrieben und intelligenten mechatronischen Antriebssystemen zu den Weltmarktführern zählt. Im März 2014 schied Wittenstein aus dem Vorstand des Unternehmens aus. Heute ist er Aufsichtsratsvorsitzender und Inhaber der familiengeführten Wittenstein AG. Von 2007 bis 2010 war Wittenstein Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA).

Heimat, Hightech, Highspeed: Regierungserklärung zur Digitalisierung

Reportage zu Industrie 4.0 in Baden-Württemberg

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