Ein Sonderbauprogramm, mehr Plätze in Notunterkünften, mehr Personal, bessere Sprachförderung und ein Extra-Kontingent für Frauen aus dem Nordirak und Syrien, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind: Der Flüchtlingsgipfel der Landesregierung hat sich auf ein umfassendes Maßnahmenpaket für eine bessere Unterbringung, Betreuung und Integration der Flüchtlinge in Baden-Württemberg geeinigt.
Über 30 Spitzenvertreterinnen und Spitzenvertreter aus Landesregierung, Fraktionen, Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Flüchtlingsorganisationen, Wirtschaft und EU-Kommission waren nach Stuttgart gekommen, um angesichts steigender Flüchtlingszahlen gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Das sei eine große humanitäre Herausforderung, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann, die nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu bewältigen sei. „Wir müssen zusammen stehen und zusammen schnell und unbürokratisch die erforderlichen Lösungen suchen und umsetzen.“ Die Teilnehmer des Flüchtlingsgipfels seien sich einig gewesen, „dass wir ein, wie es Bischof July formulierte, Bündnis für Flüchtlinge brauchen.“
Der Verantwortung gerecht werden
Der Ministerpräsident betonte, dass er froh und dankbar sei, dass es bei den Menschen im Land eine breite Hilfsbereitschaft und Solidarität für die Flüchtlinge gebe. Denn es seien alle gefordert, „gemeinsam all jene Menschen, die in Not und Lebensgefahr zu uns kommen, aufzunehmen und menschenwürdig in unserem Land unterzubringen und an einer Verbesserung der Situation der Flüchtlinge in unserem Land mitzuwirken. Das ist unsere Verantwortung als Mitmenschen und eine fortwährende Lehre aus unserer Geschichte.“
Die Landesregierung hat in den letzten Jahren schon viele Verbesserungen auf den Weg gebracht: Von der Abschaffung der Residenzpflicht bis hin zu wichtigen humanitäre Erleichterungen wie etwa Geld- statt Sachleistungen für Nahrung und Kleidung. Zudem steigen die Pauschalen für die Flüchtlingsunterbringung, die das Land an die Kommunen zahlt, von 2012 bis 2016 um 1.700 Euro pro Person. Kretschmann kündigte an, für die kommenden beiden Jahre zusätzliche 100 Millionen Euro für Flüchtlinge in den Haushalt einzustellen „Die Landesregierung steht klar zu einer fairen finanzielle Lastenverteilung zwischen Land und Kommunen“, betonte der Ministerpräsident. „Wir werden mit den Kommunalen Spitzenverbänden zu einer gemeinsamen Lösung der Finanzierungsfragen kommen.“
Gemeinsames Maßnahmenpaket für Flüchtlinge
Beim Flüchtlingsgipfel haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf folgende Maßnahmen geeinigt:
- Es wird ein Sonderbauprogramm von 30 Millionen Euro für die kommenden beiden Jahre auf den Weg gebracht. Damit wird das Land die Kommunen dabei unterstützen, rasch Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen. Für Erleichterungen im Baurecht, wie etwa den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Gewerbegebieten, hat sich die Landesregierung bereits erfolgreich im Bundesrat eingesetzt.
- Um schnell und flexibel handeln und Maßnahmen bei den Notunterkünften auf den Weg bringen zu können, wird ein interministerieller Verwaltungsstab eingerichtet. Diese Task Force soll in den nächsten Monaten weitere 3.000 Plätze in Notunterkünften in allen vier Regierungsbezirken schaffen.
- Baden-Württemberg wird – wenn das Bundesinnenministerium zustimmt – ein Sonderkontingent zur Aufnahme von Mädchen und Frauen schaffen, die im Nordirak oder in Syrien Opfer sexueller Gewalt geworden sind.
- Einigkeit bestand darüber, dass vor allem bei den Regierungspräsidien, bei den Aufnahmeeinrichtungen und bei der Polizei zusätzliche Stellen geschaffen werden sollen, um den steigenden Flüchtlingszahlen in den kommenden Monaten und Jahren gerecht zu werden. Kurzfristig wird das Personal mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus anderen Stellen aufgestockt.
- Sprache ist der Schlüssel zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb sollen die Flüchtlinge unkomplizierten Zugang zu Deutsch-Kursen bekommen. Ein Schwerpunkt der Sprachförderung liegt im vorschulischen Bereich und in den Schulen. So stockt das Land die Vorbereitungsklassen um 200 Lehrerstellen auf und beteiligt sich an der Sprachförderung für Grundschulkinder, die von rund 400 Trägern im ganzen Land organisiert wird. Außerdem fließen in den kommenden beiden Jahren zusätzlich 2,4 Millionen Euro in den vorschulischen Bereich. Mit dem neuem Flüchtlingsaufnahmegesetz ermöglicht das Land zum ersten Mal auch Sprachförderung in den Flüchtlingsunterkünften der Kreise.
- Zusätzlich zu einem bereits bestehenden Pilotprojekt der Bundesagentur für Arbeit möchte das Land gemeinsam mit weiteren Partnern ein Sonderprogramm zur Arbeitsmarktintegration starten.
- Künftig sollen die schulischen und beruflichen Qualifikationen der Flüchtlinge bereits in den Landeserstaufnahmestellen erhoben werden, um eine zielgerichtete Förderung der Flüchtlinge zu ermöglichen.
- Viele Initiativen unterstützen die Flüchtlinge vor Ort als Integrationslotsen. Dieses wichtige ehrenamtliche Engagement unterstützt die Landesregierung durch ein Vernetzungstreffen und prüft Fördermöglichkeiten durch Land und Baden-Württemberg-Stiftung.
- Das neue Landeshochschulgesetz ermöglicht Flüchtlingen, die die Bildungsvoraussetzungen mitbringen, an einer baden-württembergischen Hochschule zu studieren. Das Wissenschaftsministerium will außerdem den DAAD bei seinen Plänen zum Ausbau der Stipendienprogramme für Flüchtlinge unterstützen.
Nicht nur Pflichtaufgabe, sondern Herzenssache
Ministerpräsident Kretschmann betonte im Anschluss an den Gipfel, dass die Aufnahme der Flüchtlinge für die Landesregierung „nicht nur eine Pflichtaufgabe, sondern eine Herzenssache“ sei. Er kündigte an, dass das Land noch im Oktober die befristete Landeserstaufnahmestelle in Meßstetten in Betrieb nehme, um die Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe zu entlasten. In Ellwangen könne die neue Landeserstaufnahmestelle voraussichtlich ab März 2015 ihre Arbeit beginnen. Zudem sucht die Landesregierung in Mannheim, Freiburg und Tübingen/Reutlingen nach weiteren Standorten, um die Aufnahmekapazitäten in allen vier Regierungsbezirken zu erhöhen.
Bund muss Kommunen entlasten
Kretschmann forderte einen nationalen Flüchtlingsgipfel: „Auch die Bundesregierung sollte sich bewusst sein, wie ernst die Lage ist.“ Der Ministerpräsident sieht den Bund vor allem bei den Gesundheitskosten in der Verantwortung. „Wenn der Bund diese Kosten übernimmt, wäre das eine tatsächliche Entlastung für die Kommunen.“ Er forderte, Asylbewerber in die Versorgung durch die gesetzlichen Krankenkassen einzubeziehen. Außerdem brauche es eine gute bundesweite Lösung für die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Kretschmann sprach sich darüber hinaus für eine „besser verzahnte europäische Flüchtlingspolitik“ aus.