Interview

„Beteiligung erhöht Zufriedenheit“

Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung (Bild: © dpa)

„Wo Bürger besser einbezogen werden, sind sie zufriedener. Da eine breite Beteiligung oft die Entscheidungen verbessert, gewinnen alle“, sagt die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler, im Interview mit der Südwest Presse. Ein Gespräch über Chancen und Grenzen der Mitmach-Demokratie.

Südwest Presse: Die Baden-Württemberger sind mit der repräsentativen Demokratie zufrieden. Wieso halten Sie mehr Beteiligung für notwendig?

Gisela Erler: Die Bürger sagen mehrheitlich, dass sie mit unserer repräsentativen Demokratie recht zufrieden sind. Zugleich sagen sie: Wir möchten bei konkreten Fragen, etwa bei der Gestaltung des Wohnumfeldes, mehr mitreden oder sogar selbst entscheiden. Wir wissen: Wo Bürger besser einbezogen werden, sind sie zufriedener. Da eine breite Beteiligung oft die Entscheidungen verbessert, gewinnen alle.

Ihren „Leitfaden“ haben Sie als Lehre aus Stuttgart 21 bezeichnet. Was hat es damit auf sich?

Erler: Als der Konflikt um Stuttgart 21 hoch gekocht ist, haben alle gesagt: Wir müssen etwas tun, um solche Konflikte künftig zu vermeiden. Mit dem Leitfaden haben die Verwaltungen erstmals schwarz auf weiß, was sie wann und wie tun sollen, um die Bürger bei Großprojekten einzubinden.

Versuche, die Bürger über die bisherigen Vorgaben hinaus zu beteiligen, gab es vorher doch auch schon.

Erler: Ja, aber das war alles sehr handgestrickt. Jetzt gibt es einen Standard. Die Beamten wissen: Bei Großprojekten müssen Interessierte früh einbezogen werden. Die Bauindustrie geht genauso vor. Sie hat erkannt, dass es sonst früher oder später zu Konflikten mit der Bevölkerung kommen kann.

Was ist mit dem Faktor Zeit?

Erler: Die Angst, dass Bürgerbeteiligung als Bremse wirkt, ist unberechtigt. Vielmehr kommt es bei Hauruck-Verfahren zu Verwerfungen oder Fehlentscheidungen. Beim Berliner Flughafen etwa sollte alles schnell gehen. Nun weiß keiner, wann dieses Projekt zu welchem Preis fertig wird. Man muss natürlich, wie wir im Leitfaden, Vorgaben machen: Jetzt wird diskutiert - und dann entschieden.

Wie viel muss sich ein Bauträger Bürgerbeteiligung kosten lassen? Ein Prozent der Projektkosten?

Erler: Wenn Stuttgart 21 sechs Milliarden Euro kostet, wären das 60 Millionen Euro. So viel benötigt man gar nicht. Ein Prozent ist aber sinnvoll, wenn Kompensationen erforderlich sind. Wenn ein Projekt gebaut werden soll, das auf Widerstand stößt, kann es sinnvoll sein, dafür etwas anzubieten.

Das klingt unschön, nach „Deal“.

Erler: Die Wirtschaft bietet Kompensationen, die Politik schnürt in ihrem Bereich Verhandlungspakete. Gegenüber der Bürgerschaft gelten Deals aber als unstatthaft - zu Unrecht. Für Kompensationen muss es natürlich Regeln und Transparenz geben. Weder soll das, was gebaut wird, noch das, was angeboten wird, unethisch sein.

Nach der Sommerpause will der Landtag ein Paket für mehr direkte Demokratie verabschieden. Sind Sie mit den Inhalten zufrieden?

Erler: Ja und nein. Ja, wenn man schaut, wo wir herkommen. Noch nie hat ein Parlament selbst so weitgehende Verbesserungen geplant. Andernorts gehen Fortschritte auf Volksbegehren oder wie in den neuen Ländern auf neue Verfassungen zurück.

Aber?

Erler: Wir Grüne hätten lieber ein Paket gehabt, das die Hürden für Bürger- und Volksentscheide weiter senkt, als es der Kompromiss mit allen Fraktionen vorsieht. Das Ergebnis spiegelt die Sorge vieler Baden-Württemberger wider, dass bei zu niedrigen Hürden kleine Gruppen die Politik bestimmen könnten. Aber in zehn, 15 Jahren werden die Quoren wie in fast allen Bundesländern auch im Südwesten weiter sinken. Die Grünen sind der Zeit einfach ein Stück weit voraus.

Wie zufrieden sind Sie mit der Akzeptanz des S-21-Volksentscheids?

Erler: Wir wissen aus Studien, dass die Bahnhofsgegner im ganzen Land das Ergebnis in hohem Maße akzeptieren. Ich möchte nicht wissen, was heute an der Baustelle los wäre, wenn wir die Volksabstimmung nicht gehabt hätten. Solche Entscheide befrieden in der Regel. Das zeigt die Erfahrung.

Teilen der Stuttgart-21-Gegner gelten die Grünen inzwischen als Verräter.

Erler: In Stuttgart sind viele S-21-Gegner der Meinung, dass viele Behauptungen der Befürworter falsch waren. Aber man stimmt in der Politik nicht über Wahrheit oder Lüge ab, sondern über Alternativen. Mir ist klar, dass das schmerzlich sein kann. Die Befürworter hatten zum Beispiel gesagt: Wenn S 21 kommt, kommt auch die Elektrifizierung der Südbahn. Die steht jetzt aber auf der Kippe. Die Gegner haben das aber auch vorausgesagt. Es war damit Teil des Abstimmungskampfes.

Bei Volks- oder Bürgerentscheiden spielen oft Ängste und Egoismen eine große Rolle. Eignen sich alle Themen für die direkte Demokratie?

Erler: Wir stellen ja nicht alles zur Debatte. Abstimmungen, die Minderheiten diskriminieren, sind zum Beispiel aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich. Der Korridor ist sogar ziemlich eng: Volksabstimmungen sind nur über konkrete Gesetze möglich. Beim Nationalpark hätte man zum Beispiel warten müssen, bis das dazugehörige Gesetz da ist, um dann zu sagen: Wir wollen wieder aussteigen. Die wichtigste Änderung kommt auf kommunaler Ebene, wo die Bürger künftig mitbestimmen können, wie ein Gebiet bebaut werden soll. Das hat sich in anderen Ländern wie zum Beispiel Bayern bewährt.

Eignen sich Flüchtlingsunterkünfte für Bürgerentscheide?

Erler: Die Unterbringung von Flüchtlingen ist eine hoheitliche Aufgabe, die das Land vollziehen und durchsetzen muss, und die kann nicht von Bürgern entschieden werden. Wichtig ist aber, dass wir die Bürger informieren und in einen Dialog mit ihnen treten. Nur im gegenseitigen Austausch können wir auf die Bedürfnisse, aber auch auf die Ängste der Menschen eingehen. Wir wollen Initiativen vor Ort einbinden, die sich für und mit den Flüchtlingen engagieren wollen. Was brauchen die Menschen in diesem Ort? Das ist die Frage, die wir mit ihnen klären können.

Was ist mit dem Neubau eines Gefängnisses? Der liegt im Interesse des Landes, stößt vor Ort aber - wie der Bürgerentscheid in Tuningen gezeigt hat - auf Widerstände.

Erler: Wenn alle Gemeinden, die in Frage kommen, einen Gefängnisneubau ablehnen würden, könnte das Land den Bau zwangsweise durchsetzen. Aber wir wollen das im kommunalen Einvernehmen machen. Wir haben jetzt drei Gemeinden, die sich aktiv um dieses Gefängnis bewerben.

Wäre der Gefängnisbau etwas für ein Kompensationsangebot?

Erler: Das war nie ein Thema.

Wenn sich die Bürger partout gegen einen Gefängnisneubau entscheiden, muss die Regierung eine Entscheidung treffen. Wäre das für Grün-Rot nicht eine Blamage?

Erler: Ich denke, wir werden mit einer der drei Gemeinden einig. Die Frage, wie das Gemeinwohl zum Zug kommt, haben wir bei unpopulären Projekten immer. Wenn man etwas durchsetzen muss, ist das aber keine Blamage, gerade wenn es ums Gemeinwohl geht.

Oftmals obsiegen in Volks- und Bürgerentscheiden konservative Positionen. Droht die Stärkung der direkten Demokratie nicht ein grüner Pyrrhussieg zu werden?

Erler: Es stimmt: Gesellschaftliche Reformvorhaben kommen in der Regel nicht per Volksabstimmung zustande. So durften in der Schweiz Frauen erst spät wählen. Am wunderbaren Eisenbahnsystem der Eidgenossen kann man aber auch sehen: Die Bürgerbeteiligung führt bei Infrastrukturprojekten zu sehr klugen Entscheidungen. In der Familienpolitik wirkt sie aber nicht gerade beschleunigend. Das ist ein Aspekt, mit dem die Grünen leben müssen. Manche Dinge brauchen dann eben mehrere Anläufe.

Der Leitfaden ist verabschiedet, bald folgt der Pakt für mehr direkte Demokratie. Ist Ihre Arbeit als Staatsrätin damit erledigt?

Erler: Nein. Jetzt gilt es, die Neuerungen mit Leben zu füllen. Die Bürgerbeteiligung muss in die DNA des Landes übergehen. Bisher war der Beteiligungsdiskurs zudem sehr formal und männerdominiert. Künftig geht es darum, Familien, aber auch unqualifizierte, bildungsferne Menschen besser einzubeziehen. Wir brauchen mehr aufsuchende Beteiligung. Wir müssen mit Projekten dahin, wo die Menschen sind, etwa in Mütter-Kind-Zentren oder Mehr-Generationen-Häuser.

Das Interview führte Roland Muschel.

Quelle:

Südwest Presse

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