Besuch in Brüssel

Baden-Württemberg ist einer der Motoren Europas

Ministerpräsident Winfried Kretschmann

Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert von der Europäischen Union massive Investitionen in den Breitbandausbau und europaweite Standards für die Flüchtlingsaufnahme. Im Interview mit der Südwest Presse spricht Kretschmann über EU-Themen, die die Landespolitik umtreiben.

Südwest Presse: Im Dezember haben Sie die neue EU-Kommission besucht, nun tagt Ihr Kabinett in Brüssel. Wie wichtig ist die europäische Ebene fürs Land?

Winfried Kretschmann: Die europäische Ebene ist für Baden-Württemberg von überragender Bedeutung. Nehmen Sie das Forschungsprogramm Horizont 2020: Da können wir als forschungsstarkes Land sehr hohe Mittel abrufen.

Was kann ein kleiner Bittsteller in Brüssel überhaupt ausrichten?

Kretschmann: Ich bin der Regierungschef einer Erfolgsregion, deshalb gehe ich nicht als Bittsteller nach Brüssel. Meine Gesprächspartner wissen: Baden-Württemberg ist einer der Motoren, die Europa ziehen. Vieles, was wir praktizieren, kann eine Blaupause sein, ein Modell für Europa. Unsere duale Ausbildung etwa ist ein Exportschlager.

Angesichts der Finanzkrise vieler EU-Mitgliedstaaten müssen Sie doch fürchten, dass das Land bei Fördergeldern zurückstecken muss.

Kretschmann: Man macht die Schwachen nicht stärker, indem man die Starken schwächt, sondern indem alle zusammenarbeiten. Nehmen Sie das Investitionsprogramm von Kommissionspräsident Juncker, das die europäische Wirtschaft ankurbeln soll: Den Gedanken halte ich für richtig, wir müssen dafür sorgen, dass Länder wie Griechenland oder Spanien nachhaltig wachsen.

Und was erhoffen Sie sich vom Juncker-Programm für den Südwesten?

Kretschmann: Der Breitbandausbau muss hohe Priorität haben. Im Land haben wir unsere Förderung dafür verdreifacht und wir erwarten auch von Brüssel kein Kleckern sondern Klotzen. Der Investitionsbedarf liegt in Milliardenhöhe. Das ist von fundamentalem Interesse für strukturschwache Regionen - und für uns. Denn innovative Firmen siedeln sich nur dort an, wo sie Zugang zu schnellem Internet haben. Wir sind der Industriestandort in Europa, der die Branchen beheimatet, die bei der digitalen Revolution in Führung gehen können: Fahrzeugbau, Maschinenbau, der Gesundheitssektor. Die großen Unternehmen haben das verstanden. Wir müssen uns darum kümmern, dass auch unsere Mittelständler einsteigen. Wichtig für die ist vor allem, dass EU-Gesetzgebung zu Datenschutz und Datensicherheit auch den Schutz kleinerer und mittlerer Unternehmen im Auge hat.

Warum?

Kretschmann: Wissen und Innovation sind das Kapital unseres Mittelstands. Wenn die Angst haben müssen, dass ihr Wissen aus der Cloud geklaut wird und die Wertschöpfung woanders hingeht, halten sie sich zurück. Das wäre fatal.

Wie schnell muss eine europäische Breitbandinitiative kommen?

Kretschmann: Es geht nicht nur um den sehr wichtigen Breitbandausbau, wir erleben eine digitale Revolution. Die erste Runde haben wir an die USA verloren. Giganten wie Google oder Apple sitzen jenseits des großen Teichs. Wir sind noch industriell stark. Aber wenn wir im IT-Bereich an die Champions League anschließen wollen, ist höchstes Tempo angesagt. Sonst wird das für uns im globalen Wettbewerb sehr bedrohlich. Bei der digitalen Revolution sind wir im Vergleich mit den USA, ihrer Start-up-Kultur und ihrem gigantischen Wagniskapital gewaltig im Hintertreffen.

Auch das Asylthema ist ein europäisches Thema. Was muss Brüssel jetzt tun?

Kretschmann: Dass sich das Mittelmeer, das ,mare nostrum', unser Meer, zu einem Friedhof entwickelt hat, ist bestürzend. Die Flüchtlingspolitik ist eine Herausforderung für ganz Europa. Es kann daher nicht sein, dass mit Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien und Großbritannien fünf EU-Staaten 70 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen, die nach Europa kommen.

Wie könnte die Verteilung der Flüchtlinge aussehen?

Kretschmann: Jedes Land sollte nach seiner Leistungskraft helfen. Wir haben in Deutschland mit dem sogenannten Königsteiner Schlüssel ein gutes Modell: die Verteilung nach Größe und Steuerkraft. Ich erwarte ja nicht, dass Bulgarien eine riesige Anzahl an Flüchtlingen aufnimmt. Aber warum können sich die Niederlande nicht mehr engagieren? Diese Fragen muss Europa rasch beantworten, sonst werden einige Länder bald überfordert sein.

Zählen Sie da Deutschland dazu?

Kretschmann: Deutschland ist gefordert, aber längst nicht überfordert. Letzteres trifft eher auf Italien als Balkan- und Afrika-Anrainer zu. Das Dublin-Prinzip, wonach ausschließlich der Ersteinreisestaat zuständig ist, ist überholt.

Was muss sich noch ändern?

Kretschmann: Wir brauchen dringend europaweite Standards für die Flüchtlingsaufnahme. Brüssel muss sich viel stärker um die Frage kümmern, ob die Rechte von Minderheiten wie den Roma in Beitrittsländern wie Serbien und Mitgliedstaaten wie Ungarn gewahrt sind. Da muss die EU Grundwerte wie Menschenwürde und Minderheitenrechte durchsetzen, und zwar ebenso engagiert, wie sie sich um die Verteidigung des Wettbewerbs kümmert.

Ihre Partei hat der Einstufung Serbiens als sicherem Herkunftsland zugestimmt. Werden abgelehnte Asylbewerber, wie jüngst aus Freiburg, dorthin zurückgeschickt, protestieren Grüne. Wie passt das zusammen?

Kretschmann: Niemand verlässt grundlos seine Heimat. Aber die Probleme vieler Menschen, die zu uns kommen, werden über das Asylrecht nicht gelöst. Der Freiburger Fall hat eine lange Vorgeschichte, der Antrag auf Asyl wurde 2013 bereits abgelehnt, letztlich hat auch der Petitionsausschuss kein Bleiberecht zugestanden. Der Fall hat mit der Einstufung Serbiens als sicherem Herkunftsland nichts zu tun. Das Asylrecht schützt politisch Verfolgte, nicht Armutsflüchtlinge. Wir müssen aber auch die Frage der Armutsflüchtlinge dringend diskutieren - genauso wie die notwendige Zuwanderung von Fachleuten.

Wie lauten Ihre Vorstellungen?

Kretschmann: Wir brauchen für gut integrierte Leute eine vernünftige Bleiberechtsregelung und entsprechend eine Novelle des Einwanderungsrechts. Das ist ein Gebot der Humanität, aber auch der praktischen Vernunft. Es kann doch nicht sein, dass wir Menschen zurückschicken, die von unseren Handwerkern und Betrieben dringend benötigt werden. Natürlich können wir Flüchtlinge, die nicht unter das Asylrecht fallen, nur in dem Maße aufnehmen, wie wir sie integrieren können. Das muss der Maßstab sein. Aber wir tun in Baden-Württemberg viel für die Integration, da brauchen uns die Pegida-Demos nicht beirren.

Pegida besorgt Sie nicht?

Kretschmann: Pegida ist im Kern ein ostdeutsches Problem. Da sind, angesichts der geringen Zahl an Migranten in den neuen Ländern, viele Vorurteile im Spiel. Die müssen wir abbauen. In Baden-Württemberg ist das Verständnis und die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge groß. Aber das ist fragil. Wir sollten nicht so tun, als sei das alles eine lockere Multi-Kulti-Veranstaltung. Integration ist auch anstrengend, für die Migranten wie für uns. Aber die Anstrengungen lohnen sich, auf Dauer profitieren wir alle - Zuwanderung bereichert.

Teile der AfD sehen das kritisch, und die Entwicklung der EU ohnehin. Sitzt die AfD 2016 im Landtag?

Kretschmann: Dass die AfD in den Landtag einzieht, glaube ich nicht. Bis 2016 ist noch lange Zeit.

Quelle:

Südwest Presse
// //