Kirchentag

„Klug sein angesichts der Unergründlichkeit des Lebens“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei seiner Bibelarbeit auf dem 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag in der Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer Halle.

Zum Deutschen Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einer öffentlichen Bibelarbeit mit dem Buch Kohelet auseinander gesetzt und die Brücke zur modernen Politik geschlagen.

Die Rede des Ministerpräsidenten:

„Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags und der heutigen Bibelarbeit.

Als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg darf ich Sie auch an dieser Stelle nochmals ganz herzlich in unserer Landeshauptstadt Stuttgart willkommen heißen! Ich freue mich sehr, dass so viele Menschen den Weg zum Kirchentag und heute Morgen auch den Weg zu dieser Bibelarbeit hier in der Schleyer-Halle gefunden haben.

Die heutige Bibelarbeit ist überschrieben mit „Klug sein angesichts der Unergründlichkeit des Lebens“. Und in der Mitte unserer Bibelarbeit steht ein kurzer Abschnitt aus dem Buch Prediger oder – wie ich es als katholischer Christ eher gewohnt bin – aus dem Buch Kohelet.

Alles ist Windhauch

Kohelet – wer denkt da nicht als erstes an die berühmte und sehr poetische und eindrückliche Eröffnung des Buches: „hævæl hævælim amar kohelet hævæl hævælim hævæl hævæl – Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“

Jede und jeder von Ihnen wird solche Momente im Leben kennen, die einen mit der Vergänglichkeit oder gar Vergeblichkeit des eigenen Tuns konfrontieren: wenn Hoffnungen und Wünsche nicht in Erfüllung gehen, wenn Beziehungen zerbrechen, wenn man Menschen, Beruf oder Besitz verliert. Und wie muss es erst den Millionen Menschen weltweit gehen, die ihre Heimat verlassen und fliehen müssen, weil sie dort Unterdrückung und Gewalt oder Naturkatastrophen ausgesetzt sind?

Ja, alles ist Windhauch – das ist nicht nur die singuläre Erfahrung eines Menschen vor fast zweiundeinhalb Jahrtausenden. Das ist immer noch eine aktuelle Erfahrung, ja vielleicht sogar ein aktuelles Lebensgefühl. „Es hat doch eh alles keinen Sinn.“ „Wir können doch sowieso nichts ändern.“ „Die machen ohnehin, was sie wollen.“ Solche und ähnliche Sätze, mit denen tatsächliche oder vermeintliche Einflusslosigkeit beklagt wird, kennen wir alle und haben wir wahrscheinlich alle auch schon mal selbst gesagt.

Die Person Kohelet

Wer war aber dieser Kohelet, der solche Gedanken schon vor über zweitausend Jahren formulierte? Ein armer, vom Schicksal gebeutelter Mann? Ein geknechteter und wehrloser Mensch? Ein Bemitleidenswerter, der keine Chance im Leben hatte? Da überrascht es dann doch, wenn wir lesen, wie sich der Autor selber vorstellt: Da ist von „Sohn Davids“, König in Jerusalem“ und „König über Israel“ zu lesen. Und er nennt sich Kohelet, was kein Personenname, sondern eine Funktionsbezeichnung ist und so viel wie „Versammler“ bedeutet. Es handelt sich bei Kohelet offensichtlich um einen König, ein Mensch mit Macht, Einfluss und Geld, der sagt: „Alles ist Windhauch.“

Und dieser Kohelet scheint doch einiges versucht zu haben, um herauszufinden, was ein gutes Leben ausmacht. Er hat es mit Abschauen bei anderen und selber Nachdenken versucht; er hat es mit Geld, Drogen und Sex probiert; er hat im Reichtum geschwelgt und dem Genuss gefrönt. Kohelet hat wirklich nichts ausgelassen. Er hat alles versucht und alle Mühe aufgewendet – und am Schluss kommt er doch immer wieder zum selben Urteil: Nichts bleibt. Das bringt ihn zur zentralen Sinnfrage: Wozu das alles? Wofür die ganze Mühe? Und uns zum zentralen theologischen Text in Kohelet und zur Grundlage der heutigen Bibelarbeit.

Der Bibeltext

So darf ich Ihnen zunächst einmal diesen Textabschnitt in der Kirchentagsübersetzung zu Gehör bringen: „(9) Welcher Gewinn bleibt denen, die etwas tun, von ihrer Mühe? (10) Ich sah mir an, was Gott den Menschen zu tun gegeben hat, damit sie sich dem widmen. (11) Das alles hat Gott schön gemacht zu seiner Zeit, hat auch die Ewigkeit in das Herz der Menschen gelegt, ohne dass sie herausfinden können, was Gott von Anfang bis Ende gewirkt hat. (12) Ich habe erkannt, dass es nichts Gutes bei ihnen gibt, außer dass sie sich freuen und Gutes tun in ihrem Leben. (13) Ja, wo immer Menschen essen und trinken, Gutes wahrnehmen in all ihrer Mühe, ist das ein Geschenk Gottes.“

Meine Damen und Herren, Sie werden mir sicherlich zustimmen: Die gehörten Verse haben es echt in sich und sind eine ziemlich schwere Kost. Bei diesem Abschnitt von Kohelet handelt es sich wahrlich – um einen Buchtitel des Theologen Fulbert Steffensky zu bemühen – um „Schwarzbrot-Spiritualität“. Gestatten Sie mir deshalb bitte, dass ich mit Ihnen zusammen diesen Text Satz für Satz – um im Bild zu bleiben – „durchkaue“ und jeweils meine Gedanken dazu entfalte.

Materielle Sicherheit und Sinnfrage

Im ersten Satz unseres Kohelet-Textes klingt erneut die Suche Kohelets und seine Erfahrung der Leere und der Vergeblichkeit an: „Welcher Gewinn bleibt denen, die etwas tun, von ihrer Mühe?“ Kohelet hat die menschlichen Möglichkeiten für ein gelingendes Leben alle ausgetestet. Das, was der Mensch tun kann, hat er geprüft und versucht. Aber er ist damit überhaupt nicht weitergekommen. Und so landet er immer wieder bei der Frage: Wozu das alles? Welchen Sinn hat das Ganze?

Diese Klage über die Sinnlosigkeit des Lebens beobachtete auch die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch in unserer Zeit. Und sie erkennt dabei einen Zusammenhang zwischen der materiellen Sicherheit und der Sinnfrage. Wessen Leben durch Gewalt oder Hunger bedroht ist, dessen Lebenssinn besteht zunächst einfach im Überleben. Essen und eine sichere Unterkunft sind dann schon Sinn genug. Wenn sich aber nicht mehr die Frage nach dem Überleben stellt, wenn die vitalen Bedürfnisse gestillt sind, dann findet die Seele Zeit, zu sich zu kommen und nach dem Sinn zu fragen.

Ich zitiere Jeanne Hersch: „Es stimmt also nicht, dass unser Leben ‚sinnlos‘ ist, weil das Leben zu schwer ist, sondern umgekehrt: Weil das Leben für die große Mehrheit der Menschen im entwickelten Westen viel leichter und sicherer geworden ist, kommen viel mehr Menschen zu den gefährlichen – aber eigentlich menschlichen – Fragen nach dem Sinn.“ Vielleicht hat sich Kohelet also gerade deshalb die Sinnfrage so machtvoll gestellt, weil er in seiner völligen materiellen Sicherheit überhaupt erst Zeit und Raum dafür fand.

Tatsachen, äußere Gegebenheiten selbst schaffen keinen Sinn. Aber sie sind doch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die Sinnfrage überhaupt stellt. Die Sorge um die materielle Absicherung ist also nicht Ausdruck einer materialistischen Haltung, sondern im Gegenteil Bedingung dafür, dass der Mensch über die Sinnfrage zu seiner eigentlichen Würde finden kann. Das ist natürlich eine wesentliche Aufgabe und Begründung für die Politik. Seit jeher wird ihr als Aufgabe und Zweck die Sicherung des Lebens zugewiesen. Die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, ist die ursprünglichste Begründung und Legitimation des Staates. Wenn aber die materielle Sicherheit eine Voraussetzung für die Sinnfrage und damit für ein menschenwürdiges Dasein ist, dann ist es auch die Pflicht der Politik, sich darüber Gedanken zu machen und für entsprechende Rahmenbedingungen zu sorgen. Und dann bekommen Überlegungen zum Beispiel zu einem bedingungslosen Grundeinkommen oder zur Auskömmlichkeit von Sozialleistungen plötzlich eine andere Bedeutung.

Mangelerfahrung und Freiheit

Aber Jeanne Hersch hat auch darauf hingewiesen, dass die materielle Sicherheit allein die Sinnfrage nicht wach hält. Neben den äußeren Bedingungen braucht es auch eine innere Bedingung: den Sinn für den Sinn in uns. Für Jeanne Hersch kann es ohne die Erfahrung eines Mangels gar keinen Sinn geben: „Wäre der Mensch ein Wesen der Fülle, dann würde er sich nicht sehnen, er würde nach nichts streben.“ Ja, schlimmer noch: „Er hätte keine Möglichkeit der Freiheit. Noch mehr: das Wort Freiheit hätte für ihn überhaupt keinen Sinn. Einfacher gesagt: er wäre eben kein Mensch.“ Erst die Tatsache der „Knappheit“ an Gütern, an Mitteln, an Kraft, an Zeit usw. fordert uns heraus, zwischen Alternativen zu entscheiden. Sollen wir dies oder jenes tun oder lassen, dies oder das erwerben, das lernen und nicht etwas anderes?

Wir müssen also wählen, unterscheiden, entscheiden, handeln – nur so wird Freiheit aus Knappheit geboren. Knappheit ist also eine Grundbedingung sterblicher Menschen auf der Erde, seit wir aus dem Paradies, dem Reich der Fülle vertrieben wurden, weil wir vom Baum der Erkenntnis und damit der Entscheidung essen wollten. Aber die Sehnsucht nach dem Paradies, nach Fülle ist uns geblieben. Die Spannung zwischen der Erfahrung des Mangels und dem Sehnen nach Fülle schafft überhaupt erst den Freiheitsraum für den Menschen, in dem sein gestaltendes Handeln möglich wird. Und hier kommt erneut – und nun mit noch wesentlicherer Funktion – die Politik ins Spiel. Denn ihre Aufgabe ist es, dem Menschen eben diesen Freiheitsraum zu gewähren und abzusichern. Oder wie es die Philosophin Hannah Arendt formulierte: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Seit der griechischen Antike ist diese Freiheitsidee mit dem Begriff des Politischen verbunden – auch wenn sich der Freiheitsbegriff seit dieser Zeit stark gewandelt hat und er nun nicht mehr nur auf wenige, sondern auf alle Bürgerinnen und Bürger zielt.

Zum modernen Verfassungsstaat gehört, dass er die menschliche Freiheit in der Pluralität, der Verschiedenheit der Menschen, und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sichert. Innerhalb dieses vom Staat geschaffenen Rahmens kann sich der Einzelne frei entfalten, wie es ihm Artikel 2 unseres Grundgesetzes garantiert. Die politische Freiheit ist also eine – wie Jeanne Hersch es formuliert – „durch die Demokratie geschützte Leere“, also eine „leere“ Freiheit, die von den Menschen gefüllt werden muss. Politik muss also den „pursuit of happiness“, das Streben nach Glück gewährleisten, wie es schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 formuliert. Dass die Politik selbst ihre Bürger glücklich machen soll, ist ein weit verbreiteter Irrtum.

Ein freiheitliches Gemeinwesen braucht deshalb Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Freiheit etwas anzufangen wissen. Es braucht Menschen, die an etwas glauben, die von etwas überzeugt sind, die sich für ihre Werte und Ideale einsetzen. Denn – so Jeanne Hersch – „frei sein heißt, etwas ganz Bestimmtes unbedingt zu wollen“.

Das Leben als Gabe und Aufgabe Gottes

Doch zurück zu Kohelet. Er hat ganz deutlich diesen „Sinn für den Sinn“, von dem Jeanne Hersch spricht. Bei aller materiellen Absicherung bleibt ihm die Erfahrung eines grundsätzlichen Mangels, die Sehnsucht nach tieferen Antworten. Und er merkt eben auch, dass die hervorragenden äußeren Bedingungen diesen inneren Mangel nicht stillen können.

Und deshalb nimmt er einen sehr radikalen Perspektivwechsel vor. Er fragt nicht mehr länger nach der Lebensaufgabe des Menschen aus Sicht des Menschen, sondern wechselt die Perspektive und stellt die gleiche Frage nun von Gott her. Man könnte auch sagen: Kohelet wechselt von der Anthropologie zur Theologie.

Und so stellt Kohelet gleich in Vers 10 fest: Es ist Gott, der den Menschen eine Aufgabe gegeben hat, damit sie sich dieser widmen. Das Leben des Menschen wird nun nicht mehr isoliert betrachtet, sondern in den Kontext von Gottes Handeln gestellt. Das mühsame Lebenswerk der Menschen ist für Kohelet Ausfluss von Gottes Schöpfungshandeln. Menschliches Leben ist von Gott her also sowohl Gabe als auch Aufgabe. Im Schöpfungswillen Gottes hat der Mensch eine Aufgabe, und er ist von Gott befähigt, sich dieser zu widmen.   Damit bekommt das Ganze eine sehr existentielle Dimension. Denn wenn nun Gott ins Spiel kommt, wenn er hinter dieser Sehnsucht steht und den Menschen eine Aufgabe gibt, dann geht es nicht nur um ein bisschen mehr Glück im Leben, um ein bisschen mehr Wohlstand und Zufriedenheit. Dann geht es darum, was ich unbedingt will, was mir letztlich wichtig ist, was mir wirklich etwas wert ist. Es geht um mich – und um den Sinn meines Lebens. Oder wie Jeanne Hersch sagt: „Der Sinn für den Sinn ist nur dann lebendig, wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht.“

Gott befähigt zur Freiheit

Auch wenn Kohelet den Begriff nicht verwendet: Aus der Differenz zwischen Gabe und Aufgabe, aus der Spannung zwischen bloßem Leben und Sehnsucht nach Sinn erwächst die menschliche Freiheit. Letztlich sagt Kohelet hier: Gott hat dir ein Leben und eine Aufgabe gegeben; er ermächtigt dich zum Handeln; er schenkt dir die Freiheit, dieses Leben und die Welt zu gestalten. Aber dieser Gott wirft den Menschen nicht ins Ungewisse, er überlässt ihn nicht einfach sich selbst, sondern er schafft gute Bedingungen, damit der Mensch mit der ihm geschenkten Freiheit zurechtkommt und sie verantwortlich leben kann. Es ist eben keine gottgegebene Freiheit im Sinne von „Mach, was du willst!“ und „Schau, wie du klar kommst!“, sondern im Sinne von „Mach etwas Gutes daraus!“. Kohelets Gott ist zwar ein ferner und abwesender Gott, aber kein gleichgültiger oder zynischer.

Und deshalb sagt Kohelet über seinen Gott in Vers 11, dass er alles schön (jafäh) gemacht hat zu seiner Zeit, und dass er dem Menschen die Ewigkeit (olam) ins Herz gelegt hat. Jafäh – „schön“ meint im Hebräischen nicht nur eine äußerliche Schönheit, sondern dass etwas wohl geordnet und harmonisch ist – ähnlich wie unser Verständnis von „ästhetisch“ oder das der Griechen vom Kosmos. Und da im hebräischen Verständnis das Herz als der Ort der Vernunft und des Denkens galt, müssten wir nach unserem Verständnis vielleicht besser sagen: Gott hat die Ewigkeit in unser Denken gelegt.

Mit anderen Worten: Gott hat seiner Schöpfung eine Ordnung gegeben, die dem Menschen freies und verantwortliches Handeln ermöglicht. Hier geht es um die Immanenz, um das Handeln des Menschen aus sich heraus. Und er hat dem Menschen ein Bewusstsein gegeben, dass diese Welt eine Zukunft hat und auch sein Handeln über sein Leben hinausweist. Hier geht es um die Transzendenz, um das Wirken des Menschen über sich hinaus. Gott hat den Menschen also zur Freiheit befähigt, indem er ihn ganz auf diese Welt und auf seine Gegenwart verweist, ihm zugleich aber auch eine Perspektive über diese Welt und diese Gegenwart hinaus eröffnet.

Und auch hier gilt wieder: Menschliches Leben ist Gabe und Aufgabe. Wenn Gott mit seiner Schöpfung den Menschen die Voraussetzung für ein freies und verantwortliches Handeln gegeben hat (das ist die Gabe), dann erwächst daraus auch ein Anspruch (das ist die Aufgabe): Nutze die Gabe, mach etwas aus deinen Möglichkeiten!

Gutes Leben trotz begrenzter Möglichkeiten

Aber Kohelet ist kein Träumer, sondern sieht ganz nüchtern und realistisch: Gottes Gaben und damit des Menschen Möglichkeiten sind nicht unbegrenzt. Und so relativiert Kohelet noch in Vers 11: Die Menschen haben zwar ein Gespür für die Ewigkeit, sie können sie aber nicht überblicken – weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Das Wissen um das Ganze – das bleibt Gott vorbehalten; die Menschen aber können bestenfalls das erkennen, was innerhalb ihrer Lebenszeit liegt.

Für Kohelet befindet sich der Mensch also in mehrfacher Hinsicht in einer ambivalenten, spannungsreichen Situation: Er erfährt sein Leben als Gabe, aber auch als Aufgabe; er sehnt sich nach Fülle, erlebt aber den Mangel; er ahnt etwas vom großen Ganzen, bleibt aber ganz auf sein jetziges Leben verwiesen. Solchermaßen eingespannt zwischen Gabe und Aufgabe, zwischen Sehnsucht und Grenzen, zwischen Wunsch nach Fülle und tatsächlicher Knappheit, zwischen Transzendenz und Immanenz bleibt dem Menschen eigentlich nur eines – und Kohelet bringt es in Vers 12 auf den Punkt: Akzeptiere diese Tatsache, versöhne dich mit ihr  und handele aus ihr heraus! Oder wie es bei ihm wörtlich heißt: „Es gibt nichts Gutes bei ihnen, außer dass sie sich freuen und Gutes tun in ihrem Leben.“ Noch knapper hat es Erich Kästner formuliert: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Dass die Menschen sich an diesem Leben freuen und aus dieser Freude heraus Gutes wirken, genau dies macht gutes Leben aus! Sich freuen und Gutes tun – gerade darin besteht „das gute Leben“ für die Menschen. Und um diese Stoßrichtung der Aussage deutlich zu machen und zu verstärken, wiederholt Kohelet diesen Gedanken in Vers 13 nochmals und schlägt den Bogen zurück zu Vers 10: Essen und Trinken und Gutes tun sind eine Gabe Gottes; dies ist ganz und gar in seinem Sinne. Das Gute, das der Mensch erfährt – Essen, Trinken, Genuss, Freude – sind nicht in seiner Verfügung und auch nicht Lohn seiner Mühen – zumal der Tod dies alles nivelliert. Die Weisheit des Menschen zeigt sich für Kohelet vielmehr in der Lebensfreude, die das Gute als Gottes Gabe annimmt und weiß, dass dieses eine, kurze Leben im Angesicht des Todes gestaltet werden muss. Wir können aber auch umgekehrt sagen: Nur weil unser Leben kurz, also begrenzt ist, handeln wir. Würden wir ewig leben, würden wir alles immer nur aufschieben. „Der jetzige Augenblick würde zu irgendeinem. Jede Einmaligkeit wäre ihm fremd“ (Hersch).

Für Kohelet besteht der Sinn des Lebens also darin, es zu leben und das Gute darin anzunehmen und als Impuls für das eigene Tun zu begreifen. Indem der Mensch diesen Zusammenhang erkennt und annimmt, erwächst ihm seine Lebensklugkeit.

Was zunächst als ernüchterte, ja als frustrierte oder fatalistische Haltung erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen also als sehr befreiende und aktivierende Botschaft: Zwar ist vieles Mühen vergeblich; zwar kannst du nur dein kleines Leben überblicken; zwar ist das Gute recht begrenzt. Aber genau darin wird Gottes Schöpfungshandeln erfahrbar, und dieses darfst du genießen und kannst es zum Ausgangspunkt deines Tuns machen. Das ist eine sehr entlastende Perspektive, denn auch das Fragmentarische, Unvollendete und Unvollkommene hat bei Gott seinen Platz. Und man kann im Rahmen dieser (begrenzten) Möglichkeiten handeln und leben – und genießen! Als junger Grüner dachte ich, ich muss – mit anderen – die Welt retten. Aber das kann ich gar nicht. Das ist SEINE Zusage und Aufgabe, dass die Erde vor dem Ende der Zeiten nicht untergeht.

Politik als „Kunst des Möglichen“

Damit sind wir mitten in der politischen Wirklichkeit angekommen. So wie zum Menschsein die Erfahrung des Mangels gehört – und diese Erfahrung für Jeanne Hersch, wie schon ausgeführt, überhaupt die Voraussetzung seiner Freiheit ist – so findet auch Politik immer unter den Bedingungen der Knappheit statt. Weil der Mensch sich umfassendes Glück und dieses auch noch jetzt gleich wünscht, sieht sich die Politik immer wieder mit der Erwartung konfrontiert, für ein glückliches Leben der Menschen zu sorgen. Es ist aber nicht, wie schon ausgeführt, Aufgabe der Politik, die Menschen glücklich zu machen. Es ist auch nicht möglich.

Davor hat schon der Philosoph Karl Popper gewarnt: „Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln – eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können. Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltenbeglückung aufgeben.“ Aufgabe der Politik ist es also vielmehr, den Menschen ihre Freiheit zu sichern, ihnen also einen – wie Jeanne Hersch es nennt – „Leerraum zu wahren“, in dem sie frei denken, glauben, hoffen und handeln können. Natürlich wäre es immer wünschenswert, es gebe von allem Guten noch mehr – mehr Bildung, mehr soziale Sicherheit, mehr Hilfen. Aber dieser Wunsch nach mehr käme nie an ein Ende – und es wäre dann letztlich doch immer nur ein Mehr vom Gleichen. Insofern ist Knappheit nichts Schlechtes, weil es den einzelnen Menschen zur Freiheit und die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Politik zur Kreativität anspornt. Deshalb wird die Politik zu Recht auch „die Kunst des Möglichen“ genannt.

Dieser Spruch ist erst mal eine Ansage gegen Utopien und unrealistische Wünsche. Aber er heißt andererseits auch nicht, dass Politik nur das bewirken kann, was uns gerade möglich erscheint, und dass sie nur Sachzwänge vollzieht und Alternativlosigkeiten behauptet. Sie ist eine Kunst, sagt der Satz. Und das kann ja nur heißen, den Raum des politischen Handelns immer wieder klug und kreativ zu erweitern. So gestaltet sie Welt und vollzieht nicht einfach das, was ohne sie auch geschähe.

Deshalb konnte auch die Philosophin Hannah Arendt sagen, dass die Menschen gerade in Situationen der Ausweglosigkeit zu Recht von der Politik Wunder erwarten dürfen. Sie bezog sich dabei auf den Kirchenvater Augustinus, von dem der Satz stammt: „Initium ut esset, creatus est homo.“ – Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch erschaffen. Jeder Mensch, der geboren wird, ist also ein Neuanfang, ein „initium“, weil kein Mensch vor und nach ihm genauso ist wie er. Weil er ein solcher Neuanfang ist, kann er Neues beginnen, „initiativ“ werden. Er kann in seinem Handeln aus scheinbar linearen Prozessen aussteigen und den Automatismus vermeintlicher Kausalitäten durchbrechen. Er kann kreativ sein und völlig neue Prozesse in Gang setzen.

Verabredung mit der Wirklichkeit

Hannah Arendt übertrug diesen Gedanken auf die Politik. Ich zitiere: „Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen – in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten. Nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil die Menschen, solange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten imstande sind und dauernd leisten, ob sie es wissen oder nicht.“ Der Fall der Mauer war so ein großartiges Beispiel für ein Wunder. Gerade weil die Menschen in die Freiheit entlassen sind und deshalb nicht alles vorhersehbar und planbar ist, haben sie das Recht, von der Politik zu erwarten, dass sie etwas in Gang bringt, einen neuen Anfang wagt, etwas bewirkt. Denn wenn jeder Mensch ein Neuanfang ist, dann kann, ja muss er auch und gerade im politischen Raum etwas Neues beginnen und Alternativen auftun.

Dieser Neuanfang, dieses politische Handeln findet aber nicht irgendwann statt, sondern jetzt. Mag die religiöse Sorge um das Heil des Menschen noch auf die Zukunft und ein Jenseits gerichtet sein, so muss sich die politische Sorge um das Wohl des Menschen doch ganz dem Hier und Jetzt widmen.

Dies liegt an der Freiheit des Menschen, die sich nicht in der Vergangenheit realisiert und nicht in der Zukunft bewährt, sondern in der Gegenwart. Oder wie Jeanne Hersch sagte: „Wir haben als Menschen nur eine einzige tatsächliche, konkrete Verabredung mit der Wirklichkeit: die findet genau jetzt statt. Jetzt und nur jetzt können wir so oder so handeln, so oder so entscheiden, so oder so das Gegebene verändern. […] Nur jetzt bietet sich uns die Wirklichkeit an. Nur jetzt können wir sie erreichen und ihr etwas antun. Nur jetzt üben wir unsere verantwortliche Freiheit.“ Die Politik soll eben gerade keine Utopien ausmalen und die Gesellschaft als ganze umkrempeln wollen, sondern sie muss „auf Sicht fahren“, konkret und realistisch bleiben und ihre Ziele Schritt für Schritt angehen. Allerdings muss sie sich dazu auch Ziele setzen. Deswegen bin ich nicht wie Helmut Schmidt der Ansicht, dass, wer Visionen hat, zum Arzt sollte.

Karl Popper nannte deshalb das soziale Handeln eine „Stückwerk-Technologie“, weil es um kleine und überschaubare Verbesserungen geht. Deswegen bin ich hier mit Hr. Schmidt der Anschicht, dass das Schneckentempo das normale Tempo der Demokratie ist. Es ist genau dieser Respekt vor der Würde des jetzigen Augenblicks, der verantwortliches politisches Handeln auszeichnet. Nicht die Verklärung früherer Zeiten und nicht die Utopien künftiger Zustände, sondern die Verantwortung für die Gegenwart, das Jetzt der Entscheidung – das ist Politik.

Schluss: Bekenntnis zum Unfertigen

Dass sich die menschliche Freiheit gerade in der Akzeptanz der begrenzten Möglichkeiten und im Umgang mit den gegenwärtigen Herausforderungen beweist, daran erinnern uns nicht nur Jeanne Hersch und Karl Popper; das ist auch die zentrale Botschaft des Kohelet im Text der heutigen Bibelarbeit. Auf der Suche und im Streben nach einem guten, erfüllten und sinnvollen Leben das eigene Leben in seiner Begrenztheit, Bedrohtheit und Endlichkeit annehmen zu können, entlastet uns vom uneinlösbaren Anspruch auf Ganzheit.

Das gilt für jeden Einzelnen von uns; das gilt aber auch für die Politik insgesamt. Dann wird man sich – wie Jeanne Hersch formulierte – „auch zum Mangel bekennen, zum Unvollendeten, zum Unfertigen, ohne dass die absolute Forderung stumm wird“. Oder wie Karl Popper sagte: „Dennoch können und sollen wir Weltverbesserer bleiben – aber bescheidene Weltverbesserer.“ Nicht Ganzheit und Vollkommenheit macht die Fülle des Lebens aus, sondern dass der Mensch die Fragmente seiner Existenz und sich selbst annehmen kann und aus dieser Haltung heraus im Hier und Jetzt Verantwortung übernimmt. Ja, da kann man Kohelet nur zustimmen: Das „hat Gott schön gemacht zu seiner Zeit“.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit."

(Es gilt das gesprochene Wort!)

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