Interview

„Wandern ist eine Form des Denkens“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit seiner Frau Gerlinde bei einer Moselwanderung.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist ein leidenschaftlicher Wanderer. Wandern sei „eine entspannte, im besten Sinne des Wortes nutzlose, eine spielerische Form des Denkens“, sagt er im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung.

Stuttgarter Zeitung: Herr Ministerpräsident, was ist denn so schön am Wandern?

Winfried Kretschmann: Wandern ist Gehen in menschengerechter Geschwindigkeit. Man bekommt dabei alles geboten: den weiten Blick vom Gipfel wie auch das Detail, die Pflanzen am Wegesrand, die Insekten und anderes Getier. Beides zusammen ergibt ein gelungenes Naturerlebnis.

Welchen Landschaftstyp bevorzugen Sie? Felsen zum Beispiel machen das Wandern ja immer ein bisschen spannender.

Kretschmann: Ich bin ein klassischer Mittelgebirgswanderer. Meine Lieblingsgegend ist die Schwäbische Alb. Dort gibt es Felsen. Der Jura ist ein freundlicher, ein heller Stein. Die Alb ist der Ort meiner Kindheit und Jugend, dort umgibt mich das Gefühl der Heimat. Flaches Land habe ich nie durchwandert, das kenne ich nur von den Märschen aus der Zeit meines Wehrdienstes. Das habe ich eher als Plage empfunden.

Wo haben sie denn den abgeleistet?

Kretschmann: Unter anderem in Rendsburg in Schleswig-Holstein. Man sieht nur Knicks – hinten, vorne, links und rechts.

Knicks?

Kretschmann: Das sind mit Hecken bewachsene Erdwälle, die zur Flurabgrenzung angelegt wurden. An eine solche ringsum flache Landschaft könnte ich mich nicht gewöhnen.

Die Schwäbische Alb ist toll vor allem dort, wo man sich am Albrand bewegt.

Kretschmann: Wir wandern viel im oberen Donautal. Mein Heimatort Laiz ist das Tor zum Donaudurchbruch durch die Schwäbische Alb. Die Traufgänge ermöglichen die schönsten Touren, sie werden von den Wanderern ja auch regelrecht geflutet. Buchenwälder und Wachholderheiden wechseln sich ab, die Ausblicke sind fantastisch, und auch geologisch halte ich diese Wege für sehr ansprechend. Man kann sie allein gehen oder auch in Gesellschaft.

Wie halten Sie es?

Kretschmann: Ich wandere gern in der Gruppe, denn auch in der Gruppe kann man sich zurückfallen lassen, dann geht man ein Stück weit allein. Will man sich unterhalten, dann schließt man wieder auf. Ich erinnere daran, dass die alten Griechen ja im Gehen philosophiert haben.

Wenn ich allein unterwegs bin, nehme ich mir oft vor, über irgendein Problem nachzudenken und dieses einer Lösung zuzuführen. Das gelingt aber eigentlich nie. Die Gedanken verlieren sich anders als bei den alten Griechen beim Gehen im Unbestimmten.

Kretschmann: Wandern bedeutet: Gehen in der Landschaft als Selbstzweck. Der Weg ist das Ziel: Eigentlich ist das ein dummer Spruch, aber beim Wandern passt er. Dass man den Gedanken nachhängt und sie immer wieder verliert in der Landschaft, das ist eine entspannte, im besten Sinne des Wortes nutzlose, eine spielerische Form des Denkens.

Wenn Sie mit Ihrer Frau unterwegs sind: Reden sie miteinander? Schweigen Sie? Brüten Sie über die Politik?

Kretschmann: Wenn ich mit meiner Frau wandern gehe, reden wir nicht viel. Und was wir uns sagen, ergibt sich in der Regel aus dem, was wir sehen. Irgendwelche schwierigen Gespräche führen wir nicht – schon gar nicht über die Politik.

Wandern Sie noch oder Walken Sie schon? Mit oder ohne Stöcke?

Kretschmann: Ich wandere generell ohne Stöcke, nur wenn es mal richtig nass ist, nehme ich welche von meiner Frau, die wandert öfters damit. Mein ehemaliger Abgeordnetenkollege Horst Glück, der Arzt war und inzwischen leider verstorben ist, sagte mir einmal: „Gehe ohne Stütze, solange du kannst.“ An diese Maxime halte ich mich. Walken ist ja ein besondere Form der Gesunderhaltung, aber das ist für mich nur ein Kollateralnutzen. Politiker führen ein bewegungsarmes Leben, da muss ich schon nach einem Ausgleich schauen. Doch das ist für nicht das eigentlich Motiv für das Wandern. Ich lege Wert auf ausgiebige, anstrengende Wanderungen. In unserem Ortsverein des Schwäbischen Albvereins bieten meine Frau und ich Wanderungen an, die nicht unter vier Stunden zu bewältigen sind.

Der Ministerpräsident als Wanderführer?

Kretschmann: Ja, zwei Mal im Jahr mit meiner Frau. Erst Letztens haben wir eine Wandergruppe von Salem zum Kloster Birnau am Bodensee geführt. Wir schauen immer nach Routen mit einer Länge um die vier Stunden. Ohne angeben zu müssen, darf ich sagen: die Wanderungen sind beliebt. Als Biologe vermittle ich auch ein wenig Pflanzenkunde. Denn was man nicht kennt, sieht man nicht. Auch heimatgeschichtliche Begebenheiten gehören dazu. Natürlich darf das nicht in eine Lehrstunde ausarten. Kurz und knackig muss es sein.

Können Landschaften den Menschen prägen?

Kretschmann: Unbedingt. Da bin ich sicher. Die Landschaft, in der man aufwächst und die mit der eigenen Kindheit verbunden ist, hat etwas Prägendes. Das gibt Heimat.

Bestimmen Landschaften auch den Charakter der Menschen?

Kretschmann: Ich halte es für mystische Vorstellung, dass aus Naturlandschaften sozusagen Seelenlandschaften werden. Solche Ideen sind ein Produkt der Romantik. Einen Unterschied macht es natürlich, ob ein Mensch auf einem Einzelgehöft aufwächst oder in einer großen Metropole sozialisiert wird.

Gibt es in Baden-Württemberg noch die strikten Kategorien Stadtmensch und Landmensch?

Kretschmann: Das hat sich abgeschliffen. Viele Leute bewegen sich in virtuellen Welten, da ist es fast schon egal, wo man wohnt. Früher war das anders: Wenn man wie ich auf dem Dorf aufgewachsen ist – mit einem im Vergleich zu einem Stadtkind enormen Radius – da bildeten sich ganz andere Lebenserfahrungen aus. Und noch heute ist die soziale Kontrolle auf dem Dorf größer als in der Anonymität der Stadt. Aber das ist alles nichts im Vergleich zu Megacitys wie Seoul, Tokio oder Mexiko-Stadt.

Auch die Dialekte haben sich eingeebnet.

Kretschmann: Echter Dialekt findet sich nur noch in Dörfern. Wer sagt heute noch: „Los a mol her“? Das höre ich so gut wie gar nicht mehr. Oder: „meine Buba“? Alle sagen „Jungs“ – ein norddeutsches Wort. Und was der Anglizismus in der Hochsprache ist, das ist der Bajuwarismus im Dialekt. Die schwäbische Gartenwirtschaft verwandelt sich allerorten in einen bayerischen Biergarten, was in einem Weinland unsinnig ist.

Im April 1336 stieg der Dichter Petrarca auf den Mont Ventoux in der Provence, um die Welt um sich herum zu betrachten: die schneebedeckten Alpen, das Mittelmeer im Süden und die Pyrenäen im Westen. Die Episode, in ihrer Historizität umstritten, gilt als frühes Zeugnis des Individualismus: Der Mensch bewundert die Natur, aber das vermochte er erst, als er aus ihr heraustrat, nicht mehr zu ihr gehörte, sie nur noch als Kulisse wahrnahm.

Kretschmann: Das ist so, aber zu jener Zeit war das ein literarisches Phänomen. Im Mittelalter und noch lange danach waren die allermeisten Menschen Bauern, denen die Natur als Gegner gegenübertrat. Die Natur wurde als unbezähmbar erlebt, zugleich gab sie den Ordnungsrahmen für das eigene Leben. Im Kampf um die nackte Existenz blieb wenig Raum für ästhetisches Empfinden.

Im Mittelalter glaubte man, die geologischen Verwerfungen der Erde, die Gebirge, seien eine Folge der altestamentarischen Sintflut oder überhaupt Ausdruck des Sündenfalls.

Kretschmann: Luther hat sein Mönchsgelübde unter dem Eindruck eines Gewitters abgelegt, und in allen seinen Kantaten ist die Angst vor solchen Naturgewalten nachzuverfolgen – eine Angst, die uns übrigens nie ganz loslässt. Die Neuauffassung der Natur ist sehr mit der Aufklärung und später der Romantik verbunden. Es ist ja auch kein Zufall, dass die Grünen im deutschsprachigen Raum sehr stark sind. Das sind die langen Linien von Aufklärung und Romantik.

Es führt ein direkter Weg von der Romantik zum Nationalpark Schwarzwald?

Kretschmann: Aber hundertprozentig. (lächelt)

Am Beginn des Römerbriefes sagt Paulus, dass Gott nicht nur aus der Offenbarung, sondern auch aus der Schöpfung zu erkennen ist. Daran gemessen geht die Bibel doch recht prosaisch mit der Natur um. Wenn sie eine Rolle spielt, dann als Instrument des göttlichen Interventionswillens, etwa bei der Flucht aus Ägypten, bei der das Heer des Pharaos von den Fluten des Meeres weggerissen wird.

Die Heilige Schrift beginnt mit der Schöpfung der Welt – das ist schon ein grandioser Hymnus. Später wird das Paradies als Garten Eden beschrieben. Aus diesem Garten sieht sich der Mensch wegen seines Ungehorsams vertrieben. Das bestimmt natürlich im Weiteren die biblische Linie. Dann darf man nicht vergessen, dass der Monotheismus, wie ihn die Bibel begründet, sich absetzt von den heidnischen Göttern, die zunächst einmal Naturgottheiten waren. Der Gott der Bibel ist keine Naturgottheit. Gleichwohl finden sich auch Passagen der poetischen Naturbetrachtung, etwa im Gleichnis von den Lilien auf dem Felde.

Auf einem Berg zu stehen und dabei den Sonnenaufgang zu erleben weckt bei vielen Menschen ein ästhetisch aufgeladenes religiöses Empfinden.

Kretschmann: Franz von Assisi hat mit seinem Sonnengesang die Schöpfungstheologie wieder ganz stark in die Kirche hineingetragen. Das Gefühl, dass die Sonne aufgeht, hegen wir, auch wenn wir Heutigen wissen, dass die Erde sich um die Sonne dreht, die Sonne also gar nicht aufgehen kann. Aber so ist das halt mit dem ästhetischen Empfinden in der Natur.

Sie gehen also als Naturwissenschaftler über die Alb?

Kretschmann: Obwohl gelernter Biologe und Chemiker, gehe ich nicht als nüchterner Naturwissenschaftler auf Wanderschaft, sondern als Mensch, der sich an der Schönheit und Vielfalt der Schöpfung erfreut und ihr mit Staunen und Ehrfurcht begegnet. Das Botanisieren kann ich allerdings nicht lassen.

Das Interview führte Reiner Ruf.

Quelle:

Stuttgarter Zeitung
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