Interview

„Unsere Schulreformen dienen einer besseren Bildung“

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Bild: © dpa)

Im Interview mit der Schwäbischen Zeitung spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die Bildungspolitik der Landesregierung, eine neue politische Kultur und den Ausbau der Windenergie in Baden-Württemberg.

In der Bildungspolitik gehen die Emotionen hoch. Gibt es noch Möglichkeiten, sachbezogen über Bildungspolitik zu sprechen?

Winfried Kretschmann: Es wird im Großen und Ganzen engagiert, teilweise sogar emotional über Bildungspolitik diskutiert. Aber wenn wir einmal von der Debatte um die sexuelle Vielfalt absehen, dann schießen die Diskussionen nicht so stark durch die Decke, dass ich mir echte Sorgen machen muss. Umgekehrt empfinde ich es ja als erfreulich, dass die Menschen die Bildungspolitik als Topthema erkannt haben. Doch es ist eine komplizierte Materie. Es geht um 110.000 Lehrerinnen und Lehrer, um 5.000 Schulen verschiedenster Art und um über eine Million Schülerinnen und Schüler. Das ist ein Riesenbetrieb, den man steuern muss.

Wie wollen Sie konkret wieder Oberwasser in der Bildungspolitik gewinnen?

Kretschmann: Indem man die Wahrheit in den Tatsachen sucht. Wir werden jetzt eine Kampagne zur Bildungspolitik vorbereiten. Wir möchten das, was wir eingeleitet und erreicht haben, besser kommunizieren.

Wo wollen Sie ansetzen?

Kretschmann: Faktenreiches Argumentieren ist immer das beste Mittel. Die Schülerzahlen nehmen von 2005 bis 2020 um 20 Prozent ab, das ist dramatisch. Aber nur zehn Prozent der Lehrerstellen werden wegfallen, der Rest bleibt im System. Da kann man nicht ernsthaft von Sparen reden. Wir haben schon jetzt das beste Schüler-Lehrer-Verhältnis deutschlandweit. Ich merke immer wieder, dass das viele gar nicht wissen. Die hören nur irgendeine Zahl, die sie erschreckt. Wir müssen die Menschen besser in diese Prozesse einbauen. Die wichtigen Reformen sind jetzt angeschoben. Im nächsten Schritt erfolgt nun eine ausgewogene regionale Schulentwicklung. Dazu bedarf es vieler intensiver Debatten vor Ort. Im Übrigen kann man auch in der Bildung nicht Quantität mir Qualität gleichsetzen. Auf die Qualität kommt es aber an. Unsere Schulreformen dienen einer besseren Bildung. Wir sollten über Qualität und nicht nur über Quantität in der Bildung diskutieren.

Hat nur die Kommunikation nicht gestimmt oder hat auch die Reihenfolge Ihrer Reformen die Menschen verunsichert?

Kretschmann: Wir haben sicher am Anfang zu viel auf einmal gemacht. Die Reihenfolge hätte anders aussehen können. Aber hinterher ist man immer schlauer. Jetzt müssen wir die Dinge richtig sortieren und organisieren. Kultusminister Andreas Stoch hat in seinem ersten Amtsjahr gezeigt, dass er das alles sehr professionell angeht. Ich beobachte, dass die Kritik sachlicher geworden ist, und hoffe, dass wir die zum Teil noch immer schlechte Stimmung umgebogen bekommen.

Draußen im Land wird diese Stimmung mit dieser Koalition in Verbindung gebracht. Der Verweis, dass Sie auch einiges geerbt haben, scheint nicht mehr zu verfangen.

Kretschmann: Es ist doch normal, dass nach einer gewissen Zeit die Regierung voll in die Verantwortung genommen wird. Natürlich haben wir viele Baustellen übernommen, auf denen jahrelang nichts geschehen ist. Wichtig ist jetzt, dass die Menschen den dramatischen Schülerrückgang wahrnehmen und erkennen, dass wir ein kinderarmes Land sind. Diese demografische Entwicklung steckt hinter den Umwälzungen und stellt die Bildungslandschaft in vielen Regionen vor große Herausforderungen. Und wir wollen den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln. Jeder ist in die Schule gegangen und vergleicht die Reformen mit den eigenen Erfahrungen. So steht man Millionen von Experten gegenüber, die nach subjektiver Einschätzung kompetent mitreden. Aber vieles hat sich eben verändert.

Wie brechen Sie diese Vorbehalte auf?

Kretschmann: Die Gemeinschaftsschule hat weder etwas mit dem Unterricht zu tun, den ich als Kind genossen habe, noch etwas mit dem, was ich als Lehrer selber unterrichtet habe. Viele Leute hängen aber dem nach, was sie gewohnt sind. Deshalb kann ich über die Umfrage der CDU, die starke Vorbehalte gegen die Gemeinschaftsschule gezeigt hat, nur den Kopf schütteln. Der Typ Gemeinschaftsschule läuft jetzt im zweiten Schuljahr, die besonders beliebte Realschule gibt es seit fast 50 Jahren. Die Leute können noch gar kein qualifiziertes Urteil über den neuen Schultyp fällen. Deshalb muss man auch nicht jedes Getöse ernst nehmen. Wir wollen ein Zwei-Säulen-System etablieren, damit wir gerade auch im ländlichen Raum in Zukunft noch gute weiterführende Schulen anbieten können. Wir machen nichts, was nicht schon irgendwo auf der Welt gut funktioniert.

Wie müssen wir uns das vorstellen, wenn es in einer Koalition bei bestimmten Themen knirscht?

Kretschmann: Ist die Gefahr groß, dass der eine Partner dem anderen die Schuld zuweist, wie greifen Sie da als Ministerpräsident ein? Die Gefahr lauert immer in einer Koalition, erst recht, wenn beide Parteien fast gleich stark sind. Ich muss dann dafür sorgen, dass man zusammenbleibt, muss Konflikte entschärfen und Kompromisse suchen. So habe ich mich bei der Reform der Lehrerausbildung sehr frühzeitig der Sache angenommen. Dafür sind zwei Häuser, das Kultus- und das Wissenschaftsministerium, zuständig. In so einem Fall ist es immer gut, wenn der Regierungschef den Prozess leitet.

Täuscht der Eindruck oder ähneln sie mit Ihrem Stil dem früheren NRW-Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau?

Kretschmann: Gegen so einen Vergleich habe ich nichts einzuwenden. Seinen Ansatz, versöhnen statt zu spalten, nehme ich gerne auf. Wir sehen es doch bei der Diskussion um den Bildungsplan. Da wird schon mit einem Kulturkampf gedroht. Wer einigermaßen auf dem Teppich bleibt, kann das nicht teilen. Wir müssen schauen, was die moderne Gesellschaft zusammenhält. Das ist die große Herausforderung.

Wie sehr hat sich die Gesellschaft verändert?

Kretschmann: Mein Vorgänger Erwin Teufel hat vor mehr als fünfzehn Jahren solche Fragen bei einem großen Kongress gestellt. Die großen Fundamente der Nation, die Werte, die Religionen verlieren in einer globalisierten Gesellschaft an Bindungskraft. Wir sind multireligiös geworden, sind nicht mehr das ganz selbstverständlich christlich geprägte Land, wie ich es als Kind auf der Schwäbischen Alb mit ihrer Volksfrömmigkeit erlebt habe. Ich sage immer, wenn die Politik es schafft, dass wir auf einem Grundkonsens streiten, dann haben wir schon einen guten Job gemacht.

Aber wie wollen Sie Vorwürfen, ideologisch motiviert Politik zu betreiben, begegnen?

Kretschmann: Wir müssen mit der Kultur brechen, die Dinge erst vorzulegen, wenn sie entschieden sind. Das funktioniert nicht immer, das zeigt sich am Beispiel der Musikhochschulen. Wir haben nur einen Vorschlag gemacht, mehr nicht. Die Bevölkerung muss sich erst daran gewöhnen, dass damit noch lange nicht alles entschieden ist. Aber das verlangt ein neues Denken. Aber es muss auch entschieden werden. Ein Teil der Gegner von Stuttgart 21 kann sich bis heute nicht damit abfinden, dass das Volk gegen sie entschieden hat und dass ein Regierungschef ein Projekt umsetzen muss, das er zehn Jahre bekämpft hat. Diese Dinge müssen sich erst noch einspielen. Eine neue politische Kultur fällt nicht vom Himmel. Mich besorgt, dass sich Teile von Protestbewegungen schnell fanatisieren, was jede Debatte erschwert. Die Menschen sind eben auch aufmüpfig und machen einer Regierung Stress.

Da besitzen Sie ja Erfahrung. Haben sich die Formen des Protests verändert?

Kretschmann: Generell ist es ein Pfund, dass wir im Land so eine engagierte Zivilgesellschaft vorfinden. Wir müssen die Kreativität der Bürger auf allen Ebenen miteinbeziehen. Aber durch die modernen Technologien haben die Diskussionen völlig andere Formen angenommen. Wenn im Internet Menschen unter dem Mantel der Anonymität auf Deutsch gesagt „die Sau rauslassen“, dann sind das Exzesse. Streit ist natürlich das Salz in der Suppe der Demokratie. Doch es muss Grenzen geben. Auch in der 68er- Bewegung ist einiges aus dem Ruder gelaufen und endete in Gewalt und Terror. Da ich zu den 68ern gehöre, habe ich den Nationalparkgegnern in Baiersbronn gesagt, dass ich über ihr „schlechtes Benehmen“ nicht klage. Das haben wir ja sozusagen erfunden. Das muss man auch aushalten.

Noch nicht so weit wie angekündigt sind Sie bei der Energiewende und beim Ausbau der Windenergie. Haben Sie die Herausforderung unterschätzt?

Kretschmann: Bei unserem Start haben die fehlenden Planungsgrundlagen die Windkraft verhindert. Da mussten wir bei null anfangen, und das hat sehr lange gedauert. Auch ich habe lernen müssen, dass nicht alles so schnell geht. Ohne ornithologische Gutachten kann keine Planung abgeschlossen werden. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Aber wir sind auf gutem Wege: Ende vergangenen Jahres lagen den Behörden insgesamt 69 Anträge für 227 Windenergieanlagen vor. Die Zahl der Genehmigungsanträge und -anfragen summiert sich Ende 2013 auf 70 Prozent des Zielwertes für 2020. Diese Dynamik darf nun nicht von Berlin ausgebremst werden, die Investoren erwarten zu Recht Planungssicherheit und Beständigkeit. Deshalb werbe ich so stark für eine andere Stichtagsregelung und einen breiten Konsens.

Quelle:

Schwäbische Zeitung
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