Interview

„Reflexhafter Schlagabtausch ist mir zuwider“

Porträtfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann an einem Tisch.

„Politik ist dazu da, um Probleme zu lösen, und nicht, um Theater zu spielen“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Im Interview spricht er über Macht, sein Amtsverständnis, symbolische Handlungen und die Augenhöhe als politisches Maß.

Herr Kretschmann, Stellen Sie das Idealbild eines Anti-Politikers dar?

Winfried Kretschmann: Der Begriff hat etwas Kokettes. Man kann nicht gleichzeitig Ministerpräsident und Anti-Politiker sein. Ich beurteile Dinge nach ihrer sachlichen Qualität, nicht nach dem politischen Lager, aus dem sie kommen; reflexhafter Schlagabtausch ist mir zuwider. Das mag mir den Anschein eines Anti-Politikers verleihen.

Erklären Sie uns Ihr Machtverständnis.

Ich halte es mit Hannah Arendt: „Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln.“ Menschen versammeln sich also um Ideen und werden aktiv. Manche Politiker denken hingegen, Macht entstehe, in dem man Ämter erringt und dann durchregiert. Das ist nicht mein Stil. Ich bin also vielleicht eine andere Art von Politiker, aber bestimmt kein Anti-Politiker.

Sie sind tiefgläubiger Katholik...

Woher wollen Sie das wissen? Und es stimmt auch nicht. Ich bin ein höchst zweifelnder Gläubiger.

Gut, aber Katholik sind Sie. Außerdem lieben Sie das moderne Regietheater. Beide, Kirche und Theater, sind Institutionen, in denen die Kunst der Inszenierung eine wichtige Rolle spielt. Sie selbst hingegen geben sich als natürlicher und authentischer Normalmensch. Was fasziniert Sie an der Bühne und am Ritual?

Wenn man sich einmal unsere süddeutschen Barockkirchen anschaut, dann erblickt man ein „Theatrum sacrum“, ein heiliges Theater, in dem Bilder die Heilsgeschichte darstellen und theatralische Effekte genutzt werden. Also auch vor Gott ist unser Leben ein Theater. Ich mag die Riten meiner Kirche, sie sind mir sehr wichtig, und es stimmt, ich gehe auch gerne ins Theater. Aber Politik ist dazu da, um Probleme zu lösen, und nicht, um Theater zu spielen.

Aber in der Politik wird viel Theater gespielt, auch schon lange bei den Grünen.

Ganz ohne symbolische Handlungen kommen wir nun mal nicht aus. Der Mensch ist ja schließlich nicht nur ein „Tool-making-animal“, sondern auch ein „symbol-making-animal“. Warum soll das ausgerechnet für die Politik nicht gelten? Das Theater in der Politik ist allerdings heute oft schlecht, weil die Symbolik oft nicht stimmt.

Haben Sie ein Beispiel?

Ja, die Diätendebatte. Wenn Politiker auf die Erhöhung ihrer Diäten verzichten, dann besteht die Gefahr, dass die Leute denken, mit dem gesparten Geld könne man nun neue Lehrerstellen schaffen. Davon kann aber gar keine Rede sein. Das heißt, der reale Effekt dieser Geste ist viel kleiner als der Eindruck, den sie erzeugt. Solche Fehleinschätzungen zeigen, wie groß die Gefahr symbolischer Handlungen ist. Aber ganz kommt man ohne sie nicht aus – auch ich nicht, obwohl ich bewusste Inszenierungen zu vermeiden suche. Aber manchmal übernehmen das andere, dann werde ich inszeniert.

Was meinen Sie mit „Ich werde inszeniert“?

Ein gutes Bei spiel sind gestellte Bilder. Manche Fotografen machen richtig Druck, um sie zu bekommen. Ich spiele bis zu einem gewissen Punkt mit, aber irgendwann sage ich „Stopp“.

Es gibt da ein Foto von Ihnen, auf dem Sie im Garten neben einer Hecke sitzen und um Ihren Stuhl windet sich ein gelber Gartenschlauch. In dieser Szene vermitteln Sie das Idealbild eines grünen Politikers, der die Idylle liebt …

Natürlich setze ich mich für Fotos auch mal in den Garten. Doch in dieser Szene hatte der Fotograf sehr präzise Vorstellungen und sein Bild von mir schon im Kopf. Dem sollte ich dann entsprechen. Er wollte mir den gelben Gartenschlauch in die Hand drücken und das habe ich abgelehnt. Es ist immer eine Frage der Grenzziehung.

Wie sehen Sie Ihre Rolle?

Ich sehe mich eher als einen liberalen Menschen, nicht einfach als konservativ. Natürlich habe ich auch solche Seiten, sonst wäre ich nicht bei den Grünen, denn deren Kernanliegen ist sehr konservativ: Wir wollen etwas erhalten, das wir durch die Schöpfung so vorgefunden haben: die Natur. Aber wenn ich zum Beispiel unsere Energiepolitik nehme, dann sind wir nicht konservativ, denn unser Ziel ist es, diese radikal zu ändern.

Traditionelle Werte, katholische Demut, Besonnenheit – das sind nun nicht gerade Schlagworte, mit denen man die Jugend für sich einnimmt. Verbauen Sie Ihrer Partei die Zukunft?

Ich bin kein Jugendlicher und muss auch nicht so tun, als sei ich einer. Von mir, als einem gesetzten, älteren Herren kann man Besonnenheit erwarten. Ich würde mich doch lächerlich machen, wenn ich mich so aufführte wie die Piraten.

Im Januar 2012 wurden Sie von radikalen Stuttgart-21-Gegnern mit Schuhen attackiert, eine Schmäh-Geste, die diese sich vom ‚Arabischen Frühling‘ abgeschaut hatten. Haben Sie Angst, dass mit dem Wegbrechen der Protestler-Basis auch die Tage Ihres Erfolgs gezählt sind?

Dafür spricht zurzeit nichts. Hinter diesen Aktionen stecken aber tatsächlich tiefe Enttäuschungen, die eruptiv zutage treten. Nur hätten die Protestierenden die Schuhe gegen die Ergebnisse der Volksabstimmung werfen müssen, nicht gegen mich – wenn es schon Schuhwürfe sein müssen.

Im Streit um Stuttgart 21 waren die Fronten so verhärtet, dass am Ende die Mediation unter der Leitung von Heiner Geißler als einzig möglicher Lösungsweg galt. Ist dies ein Vorgeschmack auf künftige politische Auseinandersetzungen?

Ja, das war sicher eine Blaupause. Natürlich müssen zukünftig solche Gespräche vorher stattfinden und die Mechanismen der Bürgerbeteiligung neu entworfen werden. Doch das darf nicht nach einem starren Schema geschehen. Wir entwickeln zwar einen Leitfaden, aber das konkrete Verfahren sollte immer auf den jeweiligen Konflikt zugeschnitten werden. Mediatoren werden aber auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielen.

Diese Form der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ist sehr zeitaufwändig. Und das in einer Epoche, in der Politik immer schneller wird, weil die Medien und Märkte sie treiben. Haben wir überhaupt noch die Zeit für langwierige Diskussionen?

Das ist ein Problem. Wir können nicht damit rechnen, dass die Menschen für jedes Thema so viel Zeit aufbringen, wie sie das bei Stuttgart 21 getan haben. Irgendwann ist einfach Schluss mit der Debatte, und es muss entschieden werden, obwohl noch nicht alle Fragen beantwortet sind. Insofern wird es immer Unzufriedenheit geben. Man muss dann den Mut haben zu sagen, dass die Politik ein unvollkommener Prozess ist, sonst übernimmt man sich und ist zum Scheitern verurteilt. Wir wollen eine Bürgergesellschaft, aber kein Bürgerparadies, weil es das nun mal nicht gibt.

Auch für Sie selbst als Ministerpräsident ist Zeit ein knappes Gut…

Diese durchgetakteten Tage sind sehr hart für mich. Ich habe früher viel besser geschlafen. Die Politik nehme ich sogar mit ins Bett, sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich wache morgens oft ziemlich früh auf und bin unruhig. Früher habe ich zu Hause viel handwerklich gearbeitet, um den Kopf frei zu bekommen, aber für so etwas habe ich keine Zeit mehr. Man unterliegt vielen Zwängen, aber die gehören zu solchen Ämtern einfach dazu.

Sie sind ziemlich rasant aufgestiegen in eine völlig neue Welt. Sie mussten unter Ihrer Dachrinne am Haus Videokameras anbringen, Leibwächter begleiten Sie und Ihr Name ist aus dem Laizer Telefonbuch verschwunden. Wie lebt es sich unter solchen Bedingungen?

Erschwert. Das Schöne ist ja, dass wir in einer freien Gesellschaft leben, in der die Bürger überall hingehen können, ohne Polizeischutz zu benötigen. Es gibt es allerdings ein paar Ausnahmen und zu denen gehöre leider auch ich. Das ist, wie die Zeitknappheit, eine unangenehme Seite an diesem Amt, die man eben in Kauf nehmen muss. Ein bisschen Mitspracherecht bei der Gestaltung meines Lebens habe ich aber schon, sonst würde ich wohl in einem Bunker leben. Ich bewahre mir so viel Freiheit wie möglich.

Das Interview führten Larissa Rohr und Sophia Schmid.

Gemeinsam mit dem Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen und dem Sprachwissenschaftler und Journalisten Dr. Wolfgang Krischke haben Tübinger Studierende das Gesprächsbuch „Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte“ verfasst. Das Interview mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist ein Auszug aus einem längeren Gespräch, das in dem Buch erschienen ist.

Quelle:

Schwäbisches Tagblatt
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