Interview

"Politik des Gehörtwerdens fängt erst an"

Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Gespräch auf dem Neujahrsempfang 2012.

„Die Politik des Gehörtwerdens fängt gerade erst an“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Im Interview mit der Südwest Presse spricht er über Bürgerbeteiligung, die Mühen der Ebene und die Rolle als Landesvater.

Südwest Presse: Vor einem Jahr waren Sie umjubelter Wahlsieger, zuletzt Adressat von Pfiffen, von S-21-Gegnern und Beamten. Ein Wechselbad der Gefühle?

Winfried Kretschmann: Ich bin kein Neuling in der Politik, daher wusste ich, was auf mich zukommt. Für die Spannbreite stehen zwei große Schriftsteller: Hermann Hesse mit dem "Zauber des Anfangs" und Bertolt Brecht mit den "Mühen der Ebenen". Dass ich auf Kritik stoße, wenn es um die Umsetzung des Volksentscheids zu Stuttgart 21 oder um die Haushaltssanierung geht, war mir daher klar.

Südwest Presse: Auch in diesen Extremen?

Kretschmann: Der Protest des Beamtenbundes hat mich in dieser Form dann doch überrascht. Wir haben ja noch nichts gemacht, was strukturell in das Gehaltsgefüge eingreift. Es gab nur temporäre Verschiebungen von Tariferhöhungen, und die noch um zwei bis sieben Monate sozial gestaffelt. Bayern hat die Tariferhöhungen um 19 Monate verschoben. Ich weiß nicht, was an unseren Maßnahmen so schlimm ist, dass man gleich zu Trillerpfeifen greifen muss.

Südwest Presse: Sie sind oft mit hohen Erwartungen konfrontiert. Zu viel versprochen?

Kretschmann: Nein. Nach 58 Jahren CDU-Vorherrschaft sind die Erwartungen an den Wechsel einfach sehr hoch. Oft auch zu hoch. Auch ein grüner Ministerpräsident und eine grün geführte Regierung mit vielen Ideen kochen letztlich nur mit Wasser. Wir können den Haushalt nicht sanieren, ohne dass es jemanden schmerzt. Das ist die schwere, manchmal bittere Seite des Amtes: Man muss auch Menschen enttäuschen.

Südwest Presse: Wie schwer fällt es, auf typische Politikerfloskeln zu verzichten?

Kretschmann: Ich merke: Ich formuliere vorsichtiger als zu Amtsbeginn. Ich will aber weiter dem Verein für deutliche Aussprache treu bleiben. Politiker, die nur noch gestanzte Phrasen von sich geben, aus Angst, irgendein Satz könne Ärger machen, gibt es schon genug.

Südwest Presse: Sehen Sie sich als "Landesvater"?

Kretschmann: Am Anfang habe ich mich gegen den Begriff gewehrt. Er war mir zu paternalistisch. Aber offenbar wollen die Menschen in diesen Zeiten mit Euro-Krise, mit ökologischer und demografischer Herausforderung, jemanden, der besonnen und mit Maß Politik macht. Eben einen Landesvater. Das ist in Ordnung, das nehme ich an und mache es auch gerne.

Südwest Presse: Als letzter "Landesvater" galt Erwin Teufel, dem das Etikett aber erst nach einigen Amtsjahren anhaftete. Sie sind gleich damit gestartet.

Kretschmann: Das hängt sicher mit meinem direkten Vorgänger Stefan Mappus zusammen, der dem Bedürfnis nach einem Landesvater nicht entsprochen hat. Vielleicht helfen mir aber auch mein Alter und meine grauen Haare.

Südwest Presse: Sie haben auf ein gepanzertes Auto verzichtet, aber auf Leibwächter sind auch Sie angewiesen.

Kretschmann: Ich habe mich inzwischen an die Polizeibeamten, die mich schützen, gewöhnt. Es passt aber im Grunde nicht so ganz zur Bürgergesellschaft, die wir wollen, so ist ein leichtes Unbehagen geblieben.

Südwest Presse: Bürgernähe wollten Sie auch durch einen Umzug der Regierungszentrale in Stuttgarts Innenstadt zeigen.

Kretschmann: Das lässt sich leider nicht umsetzen. Bei bestehenden Gebäuden wären allein aus Sicherheitsgründen zu teure Umbauten notwendig, und Pläne für einen Neubau haben sich zerschlagen. Es wäre auch schwierig gewesen, einen adäquaten Nachfolger für die Villa Reitzenstein zu finden. Hier hat schon Eugen Bolz regiert, den die Nazis ermordet haben. So ein Gebäude kann man nicht einfach an irgendeinen Investor verscherbeln.

Südwest Presse: Haben Sie sich Entscheidungsprozesse schneller, leichter vorgestellt?

Kretschmann: Schneller auf jeden Fall. Wer regiert, etwas bewegen will, muss erst einmal viele rechtliche Hürden überwinden. Dass das so viel Zeit kostet, habe ich mir zu Oppositionszeiten nicht in dem Ausmaß vorgestellt. Das ist eine ernüchternde Erfahrung. So mussten wir die Verabschiedung des Landesplanungsgesetzes für die Windkraft um Monate verlängern, weil die Kommunen aufgrund der vorgeschriebenen Verwaltungsabläufe das gar nicht schneller umsetzen können. Aber man hat als Regierungschef auch sehr große Gestaltungsmöglichkeiten. So konnte ich als frischgebackener Regierungschef gleich wirkungsvoll an der Energiewende mitarbeiten. Das beflügelt.

Südwest Presse: Ihrem Vor-Vorgänger Günther Oettinger haben Sie vorgehalten, jedes "Heckebeerlesfescht" zu besuchen.

Kretschmann: Der Spruch fällt mir jetzt wöchentlich auf die Füße. Der Ministerpräsident ist für sein Land quasi Bundeskanzler und Bundespräsident in einem. Er erfüllt also auch viele repräsentative Aufgaben. Das Regieren und das Repräsentieren ins richtige Verhältnis zu bringen, ist ungemein schwierig. Eigentlich klingt es trivial, mit seiner Zeit ordentlich umzugehen. Und doch gehört es zu den schwierigsten Dingen in diesem Amt. Das hatte ich so nicht erwartet.

Südwest Presse: Woran liegt das?

Kretschmann: Das hängt auch mit der Landesvaterrolle zusammen. Wir wollen eine Politik des Gehörtwerdens machen. Dazu muss ich unter die Leute gehen, zu Heimattagen, Festen und Umzügen. Das erwarten die Menschen zu Recht, und ich mache das auch gerne. Aber es frisst die Zeit weg. Reflexartig versucht man das durch noch mehr Arbeit zu kompensieren, aber das geht nicht. Ich werde letztlich nicht daran gemessen, ob ich 12 oder 16 Stunden am Tag arbeite, sondern ob ich die richtigen Entscheidungen treffe.

Südwest Presse: Sie haben die Koalition mit der SPD erst eine Liebesheirat genannt, dann eine mit getrennten Betten. Wie ist der Beziehungsstatus jetzt?

Kretschmann: Das Bild mit der Liebesheirat ist schief. Grüne und SPD sind zwei verschiedene Parteien, die in der Koalition fast gleich groß sind. Deshalb bin ich froh darüber, dass wir grundsätzlich ein gutes Arbeitsklima haben. Im Kabinett ist das so, aber zwischen der grünen Seite und der SPD-Fraktion läuft es nicht immer rund, bei der Debatte um die Beamten zum Beispiel lag die Tonalität zu weit auseinander. Da sehe ich noch Verbesserungsbedarf.

Südwest Presse: Ihre Politik des Gehörtwerdens, stößt die an Grenzen?

Kretschmann: Im Gegenteil. Die Politik des Gehörtwerdens fängt gerade erst an. Wir müssen ja noch die Formate für mehr Mitsprache und mehr direkte Demokratie entwickeln. Ich lasse mich davon auch nicht abbringen, schon gar nicht durch Trillerpfeifen. Ich werde nie Gespräche einfach abbrechen und sagen: Mit Euch rede ich nicht mehr. Ein Missverständnis ist es aber, zu denken, dass man bei der Politik des Gehörtwerdens immer erhört wird. Zum Schluss entscheiden immer Mehrheiten. An diesem Grundsatz der Demokratie werde ich nicht rütteln. Das Volk soll aber öfter direkt entscheiden.

Südwest Presse: Auch früher wurden Bürger gehört.

Kretschmann: Natürlich wurden die Bürger schon immer angehört - etwa bei Planfeststellungsverfahren. Aber die Haltung war: Die Bürger unten machen eine Eingabe und die Bürokratie da oben schickt irgendwann einen Bescheid. Damit müssen wir radikal brechen. Wir müssen mit der Bürgerschaft ernsthaft streiten. Eine moderne Demokratie ist eine Streit-Veranstaltung. Das ist für die Politik nicht immer angenehm. Aber es ist der einzige Weg, um die zunehmende Politikverdrossenheit zu stoppen. Andernfalls öffnen wir Populisten Tür und Tor.

Südwest Presse: Bleibt Ihnen noch Zeit für ein Leben neben der Politik?

Kretschmann: Sehr wenig. Ich nehme mir die Zeit, so gut es geht. Das Problem ist: Die moderne Mediendemokratie ist auf Fehler, Unzulänglichkeiten und Zwist programmiert. Anstatt so viel Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, keine Fehler zu machen, sollten wir in der Politik mehr kreative Phasen einlegen. Dazu braucht man in der Regel Ruhe jenseits der täglichen Aufgeregtheiten. In diese Phase will ich stärker einsteigen.

Südwest Presse: Beispielsweise indem Sie auch mal eine Predigt erarbeiten?

Kretschmann: Sie spielen auf meine Fastenpredigt an. An der habe ich selber viele Stunden gearbeitet. Da gehen einem sofort Lichter auf.

Südwest Presse: Inwiefern?

Kretschmann: Ich habe über die Zachäus-Geschichte geredet: Zachäus ist auf den Baum geklettert, weil er Jesus sehen wollte. Das war auch gewitzt von ihm: Er wurde gesehen und wahrgenommen. Das gehört ja auch zu meiner Politik: Ich rede zunächst mit den Bürgern, die sich bemerkbar machen. Da kam mir: Was ist eigentlich mit denen, die nicht auf die Bäume steigen, die schüchtern sind, die andere Probleme haben und vielleicht gar nicht den Bildungshintergrund, sich qualifiziert einzumischen? Die sind ja nicht unwichtiger, nur weil sie still sind. Wie können wir die Stillen mehr beteiligen? Sie sehen: Es ist wichtig, dass man auch kreative Phasen in diesen hektischen, einen ganz in Anspruch nehmenden Alltag einbaut.

Das Interview führte Roland Muschel.

Quelle:

Südwest Presse
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