Interview

Für eine offene Suche auf einer weißen Landkarte

Ministerpräsident Winfried Kretschmann; Foto: dpa

Die Bahn als Bauherrin muss bei Stuttgart sämtliche Mehrkosten tragen, macht Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit ZEIT ONLINE deutlich. Um einen nationalen Konsens über die Suche nach einem Atommüll-Endlager zu erreichen, fordert Kretschmann „eine offene Suche auf einer weißen Landkarte“.

ZEIT ONLINE: Herr Ministerpräsident, der Aufsichtsrat der Bahn will Stuttgart 21 weiterbauen. Was nun?

Winfried Kretschmann: Aus unserer Sicht ist klar, dass die Bahn sämtliche Mehrkosten wird tragen müssen, auch solche, die vielleicht noch in Zukunft entstehen, denn sie ist Bauherrin. Es ist Aufgabe von Bahn und Bund funktionierende Bahnhöfe zu bauen. Das Land steht zu seiner finanziellen Verpflichtung, wird sich aber über den vertraglich vereinbarten Landesanteil hinaus nicht beteiligen. Das ist ein einstimmiger Kabinettsbeschluss, daran wird nicht gerüttelt.

ZEIT ONLINE: Sie berufen sich bei Ihrer Weigerung, Mehrkosten zu übernehmen, auf einen Volksentscheid, der unter ganz anderen Voraussetzungen stattfand.

Kretschmann: Was jetzt passiert ist, haben die Gegner des Projekts immer vorausgesagt: Es wird eine Kostenexplosion geben. Aber die Leute haben nicht uns vertraut, sondern denen, die gesagt haben, die Kosten bleiben stabil. Jeder wusste, dass wir uns nicht an Mehrkosten beteiligen würden, weil wir den entsprechenden Kabinettsbeschluss vor der Volksabstimmung gefasst haben. Außerdem haben wir eine Schuldenbremse in der Verfassung, wir müssen bis 2020 den Haushalt sanieren. Das Land kann also auch gar nicht mehr bezahlen.

ZEIT ONLINE: Halten Sie diese Weigerung aufrecht, wenn es jetzt vor Gericht geht und die Leute in Stuttgart ewig mit einer Ruine leben müssen?

Kretschmann: Die eklatante Verteuerung hat ausschließlich die Bahn zu verantworten. Sie hat auch die Verzögerungen bei den Genehmigungen verursacht – in dem Punkt ist die zuständige Behörde, das Eisenbahnbundesamt, ganz klar. Ich kann die Bahn nicht davon abhalten, vor Gericht zu gehen. Aber natürlich können da Jahre drüber vergehen. Sie sollte das wohlüberlegen.

ZEIT ONLINE: Angesichts der Mehrkosten ist jetzt eine Mehrheit Ihrer Bürger doch gegen den Bahnhof. Müssen die Leute neu befragt werden?

Kretschmann: Ich kann keine Politik nach Umfragen machen. Die Mehrkosten, die Planungsfehler – all das, was jetzt zutage tritt, war damals schon Gegenstand der Abstimmung. Insofern fragen Sie jetzt den Falschen. Fragen Sie doch mal diejenigen, die gesagt haben, dass alles in Ordnung ist.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Kretschmann: Die Bahn ist ihr Unternehmen. Sie muss dafür sorgen, dass da eine andere Informations- und Planungskultur einzieht. Wir ruinieren doch mit solchen Desastern allmählich unseren Ruf als Ingenieurnation.

ZEIT ONLINE: Die Bundesregierung macht Ihnen den umgekehrten Vorwurf: Wir verlieren unseren Ruf als Ingenieurnation, weil wir so viele Proteste haben.

Kretschmann: Man muss sich davon verabschieden, andere immer unter Ideologieverdacht zu stellen. Das hat die Union gemacht mit ihrer Kampagne der »Dagegenpartei«. Was in Stuttgart passiert ist, das war eben die alte CDU-Art des Regierens: lückenhafte Informationen, geschönte Kalkulationen, Schreckensszenarien für den Fall des Ausstiegs, die Denunziation von Kritikern – wo leben diese Leute? Sie haben schon bei der Atomenergie versagt. Ich habe diesen ganzen Quark doch noch im Ohr. Da musste erst eine Katastrophe passieren, damit die Kanzlerin einen 180-Grad-Schwenk machte. Da sollte man vielleicht mal über die eigenen Phrasen nachdenken.

ZEIT ONLINE: Apropos Atomenergie. Die Bundesregierung will die Endlagersuche neu starten. Das rot-grüne Niedersachsen, also auch Ihre Parteifreunde, macht nur mit, wenn Gorleben vorher ausgeschlossen wird. Kann man sich im Bundesrat auf dieser Basis einigen?

Kretschmann: Nein, das kann man nicht. Wir müssen die Suche von vorne anfangen, als wenn es Gorleben nicht gäbe. Eine offene Suche auf einer weißen Landkarte. In jedem neuen Verfahrensschritt wird geprüft, ob Gorleben den Kriterien entspricht. Tut es das, bleibt es drin – wenn nicht, fliegt es raus. Ohne dieses Verfahren wird man keinen nationalen Konsens erzielen. Und ohne nationalen Konsens wird die Lösung der Endlagerfrage nicht gelingen.

ZEIT ONLINE: Ihr eigener Umweltminister hat ein Endlager in Baden-Württemberg zum »Treppenwitz« erklärt. Warum sollten die Niedersachsen Ihnen glauben, dass Sie eine ernsthafte Endlagersuche in Ihrem Bundesland zulassen?

Kretschmann: Das ist mir ganz neu. Und wenn, dürfte das wirklich lange her sein. Es ist aber auch unerheblich. Man kommt nicht weiter, wenn man in der Vergangenheit herumstochert, was wer wann schon einmal dazu gesagt hat. Entscheidend ist: Minister Untersteller hat jetzt die Vorgaben für den Suchprozess gemacht. Die Entscheidung, wo ein solches Endlager entstehen könnte, fällt erst einmal nicht die Politik, sondern die Wissenschaft. Ich habe diesen Prozess eröffnet. Wenn es mir nicht um die Sache ging – was sollte ich daran für ein Interesse haben? Beliebt macht man sich mit einem solchen Vorstoß nämlich weiß Gott nicht.

ZEIT ONLINE: Der Bund will neu suchen, die meisten Länder sperren sich nicht – kann Deutschland hinter diesen Stand zurückfallen?

Kretschmann: Das Zeitfenster ist sehr klein für einen Konsens, denn die Konstellation ist einmalig. Im Bund regiert Schwarz-Gelb, in den Ländern regiert Rot-Grün, und ein grüner Ministerpräsident hat den Prozess aufgemacht. So etwas ist sehr fragil. Immer besteht die Gefahr, dass jemand ausbüxt, nicht mehr mitmachen will. Wenn man die Chance jetzt nicht nützt, wird es sehr viel schwerer.

ZEIT ONLINE: Sicherheit für eine Million Jahre, organisiert von Mandatsträgern mit vier oder fünf Jahren Amtszeit – geht das überhaupt?

Kretschmann: Das Paradoxon können wir nicht lösen. Das ist ja einer der Gründe, warum die Grünen von Anfang an gegen Atomkraft waren. Das sind theologische Zeiträume, um die es da geht, sie übersteigen das menschliche Maß. Aber nun haben wir das Maß überstiegen, jetzt müssen wir uns der Herausforderung stellen.

Das Interview führten Mariam Lau und Frank Drieschner.

Quelle:

ZEIT ONLINE
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