Interview

"Der Föderalismus ist eine geniale Erfindung"

Ministerpräsident Winfried Kretschmann

Der Bundesrat hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Bundesratspräsidenten gewählt. Den Föderalismus an sich findet er „genial“, die Länderkammer allerdings hält er für reformbedürftig, sagt Kretschmann im Interview mit der Stuttgarter Zeitung.


Stuttgarter Zeitung: Herr Ministerpräsident, kein Pfeiler der Verfassung ist bei den Bürgern so unbeliebt wie der Föderalismus. Sie dagegen sind ein Fan. Wieso?

Winfried Kretschmann: Wir sind der einzige föderale Staat auf der Welt, in dem der Föderalismus unpopulär ist. Woran das liegt, wüsste ich auch gern. Ich vermute, dass der Bundesrat bei den Bürgern unter Blockadeverdacht steht. Außerdem sind föderale Entscheidungswege meistens erst auf den zweiten Blick als die besseren erkennbar. Die Forderung nach einheitlichen Schulbüchern für die ganze Republik zum Beispiel leuchtet vielen Eltern erst einmal ein. Aber auch sie sagen drei Sätze später, dass für ihr Kind nur eine besondere Schule infrage kommt. Schulen in freier Trägerschaft schießen aus dem Boden. Schon das zeigt, dass die Einheitsschule in die falsche Richtung geht. Föderalismus, kommunale Selbstverwaltung und Subsidiarität sind geniale Erfindungen.

Stuttgarter Zeitung: Dialekte und Landsmannschaften finden die Menschen gut. Wieso überträgt sich diese positive Wertung nicht auf föderale Politik?

Kretschmann: Der Föderalismus wird auf der funktionalen Ebene kritisiert: da, wo er etwas leisten muss. Außerdem glaube ich, dass die Deutschen den Wert der Gleichheit über die Freiheit stellen. Schon zwei unterschiedliche Nichtrauchergesetze in zwei Ländern lösen bei uns Panik aus.

Stuttgarter Zeitung: Vor allem haben doch Landesregierungen Angst, eigene Wege zu gehen!

Kretschmann: In der Schweiz haben Kantone verschiedene Steuersätze. Das stieße bei uns auf große Bedenken. Aber Eigenständigkeit führt auch zu unterschiedlichen Weichenstellungen in den Ländern. Der Sinn von Freiheit ist, dass es Unterschiede gibt.

Stuttgarter Zeitung: Selbst manchen Ihrer Weggefährten ist dieses Bekenntnis unheimlich. Manche nennen Sie „Föderast“ – das klingt etwa so anerkennend wie Kinderschänder.

Kretschmann: Das wirft ein helles Licht auf die Akzeptanzprobleme, die der Föderalismus hat. Dennoch will ich es für die Schulen noch einmal klar sagen: aus Stuttgart Bildungspolitik für das ganze Land Baden-Württemberg zu machen ist schon zu zentralistisch. Deshalb wollen wir Gemeinden und Schulen stärken. Wie sollen sich die Menschen in einer Welt, die zusammenwächst, noch behausen, wenn die Politik Probleme und Aufgaben nicht dahin abschichtet, wohin sie gehören?

Stuttgarter Zeitung: Solche abstrakten Argumente taugen aber nicht zur Ehrenrettung. Gerade erst wieder hat ein Grundschulvergleich große Unterschiede gezeigt. Die Bürger sind enttäuscht von der föderalen Realität.

Kretschmann: Doch nicht bei uns. Baden-Württemberg liegt mit an der Spitze der Vergleiche. Das ist die Aufgabe der Bremer, nicht unsere.

Stuttgarter Zeitung: Wirklich nicht? Dass einige Länder gute Noten für ihre Schulen bekommen, reicht doch nicht. Als Kollektiv verfehlen die Länder ihre gesamtstaatliche Verantwortung, auf unterschiedliche Weise ein insgesamt leistungsstarkes Bildungswesen zu schaffen. Sie sind nicht aus dem Schneider, nur weil Sie für Bremen nicht zuständig sind.

Kretschmann: Bremer Politiker sind für die Schulen in Bremen verantwortlich, nicht ich. So ist es geordnet, und so muss man es akzeptieren. Die Kultusministerkonferenz setzt für alle geltende Grundregeln, und die Länder setzen sie in föderaler Eigenregie um. Die Unterschiede führen dazu, dass geprüft wird, warum in Bremen etwas schlechter läuft als bei uns. Dann wird man merken, dass das nicht nur an der Politik liegt, sondern auch an Strukturen und der Einwohnerschaft. Dass Föderalismus nicht nur Kooperation, sondern auch Wettbewerb heißt, ist eine Riesenchance.

Stuttgarter Zeitung: Vor Kurzem gab es einen Vorstoß, das sogenannte Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Grundgesetz wieder aufzuheben. Obwohl „Föderast“: sind Sie da bereit, gegen entsprechende Geldsummen den Einfluss des Bundes zuzulassen?

Kretschmann: Bei Hochschulen kooperieren wir sowieso, da ist auch mehr denkbar. Aber ich räume dem Bund keine Zuständigkeit für die Schulen ein. Die Schulpolitik ist unsere Kernkompetenz. Wir werden sie wie unseren Augapfel hüten.

Stuttgarter Zeitung: Sie werden vom Bund kein Geld für die Schulen kriegen, ohne dass er mitredet.

Kretschmann: Ich empfehle einen Blick in die Verfassung: Artikel 106 sagt, dass Bund und Länder die Deckungserfordernisse aushandeln. Die Ministerpräsidenten haben mit der Kanzlerin beschlossen, dass zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung fließen sollen. Davon sind wir weit entfernt. Es ist evident, dass für diesen Bereich Geld fehlt, deshalb muss der Bund uns mehr geben. Wir wissen dann schon selber, wie wir es vernünftig ausgeben.

Stuttgarter Zeitung: Subsidiarität heißt auch: Wer bestellt, bezahlt, und wer bezahlt, bestimmt mit.

Kretschmann: Es geht ums Verhandeln, nicht ums Bestellen. Das Grundgesetz sieht keine Hierarchie der Staatsebenen vor, sondern an vielen Stellen eine Teilung der Kompetenzen. Bund und Länder sind auf Augenhöhe.

Stuttgarter Zeitung: Der Verfassungstext ist das eine, die Staatspraxis etwas anderes. Haushaltspolitiker in Berlin schimpfen den Bundesrat schon eine „kriminelle Vereinigung“, weil er jede Gelegenheit zur Erpressung nutzt, wenn seine Zustimmung zu Gesetzen erforderlich ist – zum Beispiel beim Fiskalpakt.

Kretschmann: Beim Fiskalpakt haben wir fast ausschließlich für unsere Kommunen verhandelt, die mit der Eingliederungshilfe für Behinderte schlicht überfordert sind.

Stuttgarter Zeitung: Alles immer nur Altruismus? Unvergessen ist, wie der frühere SPD-Chef Oskar Lafontaine den Bundesrat vor dem Regierungswechsel 1998 zur Blockade nutzte und die rot-grüne Regierung Schröder CDU-Länder aus ihrem Lager herauskaufte, um ihre Gesetze durch den Bundesrat zu bringen.

Kretschmann: Deshalb bin ich zum Beispiel auf Lafontaine schlecht zu sprechen. Solche Politik diskreditiert den Bundesrat. So entsteht der Eindruck des Blockierens und des Kuhhandels. Mir werden solche Deals nicht nachzuweisen sein.

Stuttgarter Zeitung: Nun werden Sie zum Präsidenten des Bundesrats gewählt. Ist das mehr als eine zusätzliche Repräsentationsaufgabe für Sie?

Kretschmann: Vor allem geht es um Koordinierung und Repräsentation. Aber ich will auch eine Reform anstoßen. Der Bundesrat muss transparenter werden. Dass unsere Länderkammer im weltweiten Vergleich außerordentlich viel Einfluss hat, ist kaum bekannt. Ich nehme mir als Projekt deshalb die Frage vor, wie der Bundesrat in seinen Abläufen und in seiner Darstellung so modernisiert werden kann, dass seine Rolle und sein Gewicht sichtbar werden. Mir ist klar, dass der Zeitpunkt dafür ein Jahr vor der Bundestagswahl nicht der günstigste ist. Ich versuche trotzdem, das anzuschieben.

Stuttgarter Zeitung: 2020 greift die Schuldenbremse voll. Wird der Finanzdruck Länderneugliederungen erzwingen, oder wird die Schuldenbremse, wenn es eng wird, wieder abgeschafft?

Kretschmann: Die Schuldenbremse bleibt, und allenfalls eine Fusion von Berlin und Brandenburg hat eine Chance. Die Länder werden ein gemeinsames Schuldenmanagement auf die Beine stellen und einen Tilgungsfonds schaffen. Wir wollen überschuldeten Ländern helfen, mit einem intelligenten Schuldenmanagement wieder auf die Füße zu kommen. Bei den Geberländern gibt es dazu die Bereitschaft.

Stuttgarter Zeitung: Auch in Bayern?

Kretschmann: Ja.

Stuttgarter Zeitung: In Ihre Amtszeit als Bundesratspräsident werden wichtige Entscheidungen zur Energiewende fallen. Wie schwer wird es, die Einzelinteressen der Länder und die gesamtstaatlichen Notwendigkeiten zur Deckung zu bringen?

Kretschmann: Es wird schwer. Wir haben die Kohleländer, den Osten mit seiner starken Fotovoltaik, den windreichen Norden und die Südländer mit einem hohen Anteil an Atomstrom, aber auch an Fotovoltaik. Da stoßen sich die Interessen. Aber der Bundesrat ist ein Gremium, das sehr kooperativ arbeiten kann.

Stuttgarter Zeitung: Von wegen Kooperation – beim Ökostrom liefern die Länder sich ein Windhundrennen: Im Zug der Energiewende will jeder seinen Wirtschaftsstandort nach vorne bringen.

Kretschmann: Natürlich wollen alle Wertschöpfung auch im eigenen Land generieren, wir haben aber auch bei der Kürzung der Solarförderung mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gezeigt, dass die Länder an einem Strang ziehen können.

Stuttgarter Zeitung: Der Bund will den Netzausbau und das Wachstum beim Ökostrom aufeinander abstimmen. Dazu müsste der Ausbau von Solar- und Windenergie etwas verlangsamt werden. Einverstanden?

Kretschmann: Nein. Wir erreichen die Energieziele nicht, wenn man jetzt auf die Bremse geht. Richtig ist, dass wir die Entwicklung im Netzausbau und bei den Erzeugungskapazitäten synchronisieren müssen. Aber deshalb kann man nicht die erneuerbaren Energien kappen. Deren Wachstum brauchen wir, damit 2022 das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen kann.

Stuttgarter Zeitung: Wird es Zeit für eine Föderalismusreform?

Kretschmann: Ja. Die Finanzbeziehungen müssen insgesamt neu geordnet werden. Wenn man das vernünftig machen will, muss man gleich nach der Bundestagswahl anfangen.

Das Interview führten Bärbel Krauß und Reiner Ruf.

Quelle:

Stuttgarter Zeitung
// //