Interview

Bürgerbeteiligung ist für alle ein Lernprozess

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview (Foto: dpa)

Bürgerbeteiligung ist ein Lernprozess für allen Beteiligten und kann anstrengend sein, macht Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Sommerinterview der Stuttgarter Nachrichten deutlich. Aber Argumentieren gehöre zu seinen Leidenschaften: „Ich bin ein Kämpfer und schwitz’ mir gern das Hemd in Auseinandersetzungen nass.“

Stuttgarter Nachrichten: Herr Kretschmann, Sie verreisen in Kürze nach Schottland. Dort wohnt Ihre Tochter. Sind Sie reif für die Insel?

Winfried Kretschmann: Ich bin jedenfalls reif für den Urlaub. Vor der Sommerpause drängt sich immer alles. Da geht’s fast jeden Tag an die Leistungsgrenze. Also muss ich jetzt mal wieder auftanken.

Sie werden nach Ihrem Urlaub kaum kürzertreten können. Am Horizont taucht die nächste Landtagswahl auf...

Kretschmann: ...bei mir nicht. Gute anderthalb Jahre vorher mit dem Wahlkampf zu beginnen, halte ich für völlig abwegig. Ich werde das zu verhindern versuchen, so gut ich das kann, und meiner Arbeit als Ministerpräsident nachgehen. So fünf, sechs Monate vor der Wahl ist der Zeitpunkt, wo man sich allmählich darauf einstimmen kann. Ich bin überzeugter Anhänger kurzer und knackiger Wahlkämpfe.

Dass Sie 2016 noch mal antreten, hat sich rumgesprochen. Doch es gibt Zweifel, ob das für die gesamte fünfjährige Legislaturperiode gilt. Am Ende wären Sie 72.

Kretschmann: Man kandidiert immer für die ganze Legislaturperiode. Um das Amt auszuüben, muss man aber natürlich gesund bleiben. Das hat man nicht in der Hand.

Brauchen Sie die vollen fünf Jahre, weil noch so viel auf Ihrer Agenda steht?

Kretschmann: Nein. Eine zweite Legislaturperiode braucht man, um die Dinge, die man angefangen hat, zu festigen – etwa die Umgestaltung des Schulwesens zu einem Zwei-Säulen-Modell. Wir merken das auch bei der Windkraft. Etwas zu korrigieren, was zwei Jahrzehnte lang ganz anders gemacht wurde, erfordert einen enormen Kraftaufwand. Deshalb geht es viel langsamer voran, als man selbst möchte.

Sind Sie SPD-Finanzminister Nils Schmid gram, dass er Ihnen kürzlich das Thema Sparen und Nullverschuldung weggeschnappt hat?

Kretschmann: Nein. Das wurde falsch interpretiert. Die Konsolidierung des Haushalts ist unsere gemeinsame Aufgabe. Mir war nur wichtig, dass man bei dem Thema kein Strohfeuer entfacht. Am Ende haben wir ein gutes Paket geschnürt: Schon 2015 werden wir mindestens 300 Millionen weniger Kredit aufnehmen. 2016 kommt dann die Nettonullverschuldung, übrigens unser drittes Jahr ohne Neuverschuldung, und auch danach werden unsere Sparbemühungen stärker zu Buche schlagen als ursprünglich vorgesehen. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Einige strittige Themen aus dem Koalitionsvertrag sind noch nicht abgearbeitet. Dazu gehört die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte. Die Gewerkschaften sind strikt dagegen. Kommt sie trotzdem?

Kretschmann: Ja. Wir müssen allerdings eine Form finden, die es einerseits erlaubt, individuelles Fehlverhalten von Polizisten nachzuvollziehen, und gleichzeitig verhindert, dass die Beamten durch die Kennzeichnung persönlichen Aggressionen ausgesetzt sind.

Ärger bereitet Ihnen auch der geplante Bildungsurlaub...

Kretschmann: ... darüber gab es in den Koalitionsverhandlungen Auseinandersetzungen zwischen SPD und Grünen. Jetzt steht der Bildungsurlaub im Koalitionsvertrag drin, und daran halten wir uns. Wir werden das noch in ¬dieser Legislaturperiode umsetzen. Bei der Ausgestaltung müssen wir darauf achten, dass die Freistellung zur Weiterbildung ermöglicht wird, ohne dass die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen leidet.

Das Thema hat für die Wirtschaft Symbolkraft. Fürchten Sie nicht, dass Ihre Reputation in Unternehmerkreisen leidet?

Kretschmann: Wir müssen das Thema auf den tatsächlichen Regelungsbedarf beschränken und dürfen nicht etwas hineininterpretieren, was da gar nicht hineingehört. Eine Chance auf einen guten Kompromiss hat man nur, wenn man sich an die Sache hält und sie nicht ideologisch auflädt.

Haben Sie den Eindruck, dass die Wirtschaft das gerade tut?

Kretschmann: Ja, ich finde schon, dass das Thema etwas überhöht wird. Wir werden aber versuchen, das Bildungszeitgesetz so zu gestalten, dass sich der negative Eindruck bei der Wirtschaft zumindest abschwächt. Wir verhandeln das gerade innerhalb der Koalition.

Eines Ihrer Hauptthemen ist die Bürgerbeteiligung. Müssen Sie heute nicht einräumen, dass Sie die Erwartungen zu hoch gesteckt haben, weil die Bürger nicht so reagieren, wie Sie es wollen – etwa beim Nationalpark?

Kretschmann: Meine Wahrnehmung ist eine andere. Der Unterschied zur Vorgängerregierung wird sehr deutlich wahrgenommen. Unser Politikstil wird auch von Menschen geschätzt, die uns politisch eher nicht nahestehen. Man kann aber nicht erwarten, dass ein solcher Wechsel auf Knopfdruck funktioniert. Das ist für alle Beteiligten ein Lernprozess.

Was haben Sie gelernt?

Kretschmann: Manche Dinge muss man deutlicher erklären. Zum Beispiel den Unterschied zwischen solchen Fragen, die das Volk entscheiden kann, und solchen, bei denen es nur beteiligt wird. Auch die Zuständigkeiten muss man besser erläutern. Beim Nationalpark hätten wir sehr viel klarer sagen müssen: Ihr könnt vor Ort über das Wie mitentscheiden, aber nicht über das Ob. Denn über das Ob entscheidet der Landtag.

Muss dieser Lernprozess nicht auch bei Ihnen selbst stattfinden, indem Sie sagen: Bürgerbeteiligung hat Grenzen? Sie laufen doch sonst Gefahr, dass Sie nirgends ein Gefängnis bauen können, weil die Bürger immer dagegen sind.

Kretschmann: Das sehe ich nicht so. Ich bin überzeugt, dass wir mit unserer Beteiligung der Bürgerschaft einen Gefängnisstandort finden werden. Sollte es wider Erwarten nicht der Fall sein, gibt es im Baugesetzbuch einen Passus, mit dem wir das dann auch hoheitlich entscheiden könnten. Denn wir brauchen ein neues Gefängnis.

Rühren die Probleme bei der Bürgerbeteiligung nicht auch daher, dass das Prozedere im Vordergrund steht und nicht die Frage, wie versammelt man Menschen hinter einer Idee?

Kretschmann: Gesetze haben immer einen Buchstaben und einen Geist. Dieser Geist kommt nicht von selbst, dafür muss man etwas tun. Im Grunde ist es eine Frage der Haltung: Nehme ich die Bürgerschaft ernst, oder denke ich, das Volk ist zu dumm, wenn es anders abstimmt, als ich will? Mit dieser Haltung nützt das beste Beteiligungsgesetz nichts.

Ihr Vorbild ist die Schweiz?

Kretschmann: Die Schweiz ist mit einer positiven Haltung zu Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie eine erfolgreiche Industrienation geworden. Und ich behaupte, im Schnitt fällt die Bürgerschaft keine schlechteren Entscheidungen. Allerdings kann die Bürgerschaft genauso falsch entscheiden wie die Politik. Darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, dass eine entwickelte Demokratie eine aufgeklärte Bürgerschaft hat, die mitreden will und nicht alles schluckt. Das kann anstrengend sein, und manchmal geht es mir auch auf die Nerven. Wenn ich etwa Leute vor mir habe, die mit der Attitüde an mich herantreten: Jetzt erkläre ich Ihnen mal die Windkraft. Das erlebe ich oft. Kürzlich habe ich Windkraftgegnern gesagt: Glauben Sie eigentlich, dass ich mich noch nie mit Ihren Argumenten beschäftigt habe?

Fällt Ihnen das Zuhören, das Sie zum Programm erhoben haben, heute schwerer?

Kretschmann: Na klar. Wenn man in der Rolle desjenigen ist, der etwas gestalten kann, ist das schwieriger als in der Opposition, wo man es nur fordert. Aber das ist bei mir so stabil, dass ich nicht davon abrücke, auch wenn ich mich ab und zu ärgere. Diese Gefahr besteht nicht. Ich bin ein Kämpfer und schwitz’ mir gern das Hemd in Auseinandersetzungen nass. Argumentieren gehört zu meinen Leidenschaften. Das Problem ist, dass sich in fast allen Auseinandersetzungen schnell fanatische Kerne bilden, die einen echten Dialog erschweren. Außerdem verlieren die Leute, wenn es um ihre eigenen Interessen geht, schnell die Contenance. Wir müssen ja aber auch auf das Gemeinwohl achten. Da muss man immer wieder geduldig argumentieren und auch mal klare Ansagen machen.

Das Thema Flüchtlinge rückt immer stärker in den Mittelpunkt. In Baden-Württemberg werden allein in diesem Jahr rund 23.000 Menschen erwartet. Was empfinden Sie angesichts dieser Entwicklung, und was tun Sie als Ministerpräsident?

Kretschmann: Erst mal beobachte ich einen erfreulichen Mentalitätswandel in der Bevölkerung. Ich darf daran erinnern: Das Flüchtlingsthema hat mal die Republikaner in den Landtag gebracht. Heute ist die Stimmung ganz anders. Es gibt eine große Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen. Aber ¬natürlich stellt der Zustrom eine große Herausforderung dar, weil die entsprechenden Liegenschaften in den vergangenen Jahren abgebaut worden sind. Wir sind da dran und werden nochmals erhebliche Mittel im Haushalt einstellen, dass unsere Kommunen und Kreise die Unterbringung der Flüchtlinge stemmen können.

Der Gmünder Oberbürgermeister Richard Arnold hat Sie aufgefordert, das Thema zur Chefsache zu machen und eine Grundsatzdebatte anzustoßen. Braucht Deutschland eine neue Einwanderungspolitik?

Kretschmann: Ja, gar keine Frage. Wir sind wie die meisten Industrienationen von der demografischen Entwicklung geplagt. Baden-Württemberg braucht Zuwanderung, sonst schlittern wir in einen Fachkräftemangel hinein. Ich bin auch gegen Arbeitsverbote für Flüchtlinge.

Blutige Konflikte wie in Nahost haben hierzulande ein starkes Echo. Plötzlich erleben wir in Deutschland wieder Judenfeindlichkeit. Haben Sie ein Rezept dagegen?

Kretschmann: Nein, ein Rezept habe ich nicht. Umfragen zeigen, dass der Antisemitismus ein tief sitzendes Ressentiment in nicht wenigen Bevölkerungskreisen ist. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um offenem Antisemitismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu begegnen. Wir arbeiten ja auch pädagogisch für dieses Ziel, etwa in der Gedenkstättenarbeit. Aber es bedrückt mich immer wieder, wie hartnäckig sich Anti¬semitismus hält.

Auch Muslime geraten in diesem Klima unter Druck.

Kretschmann: Ja, viele Menschen neigen leider zu Pauschalurteilen und unterscheiden nicht. Oft wird die muslimische Gemeinde für die Fanatiker in Haftung genommen. Umso wichtiger ist es, dass wir die friedlichen Muslime integrieren und ihnen alle Freiheiten einräumen, die die angestammten christlichen ¬Religionen bei uns haben.

Was heißt das konkret?

Kretschmann: Ich hatte jetzt ein Treffen mit den Muslimen, in dem wir mit Blick auf einen ferneren Staatsvertrag besprochen haben, wie wir islamischen Religionsunterricht als ordentliches Schulfach einrichten können. Sie können heute ihre Toten nach ihrem eigenen religiösen Ritus bestatten. Und inzwischen sitzen Muslime auch im Rundfunkrat.

Gehört zu den Rechten auch, dass Muslime einen gesetzlichen Feiertag erhalten?

Kretschmann: Gesetzliche kirchliche Feiertage gibt es erst einmal für die Mehrheitsreligion.

Das Zuckerfest, das Muslime kürzlich gefeiert haben, wird also kein gesetzlicher Feiertag?

Kretschmann: Nein. Es gibt aber Überlegungen, dass das ein religiöser Feiertag wird. So etwas haben wir mit den Juden ja auch in einem Staatsvertrag geregelt. An solchen Feiertagen können sie dann Urlaub nehmen oder ihre Kinder vom Unterricht befreien.

Wie sieht es mit dem Recht aus, dass der Staat die Kirchensteuer einzieht?

Kretschmann: Darauf hat jede Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, Anspruch, wenn sie das möchte. Also wenn die Muslime eine solche Körperschaft bilden, können sie selbstverständlich am Kirchensteuereinzug teilhaben. Man muss aber wissen: Das gibt’s nicht umsonst, sondern den Kirchensteuereinzug lässt sich der Staat bezahlen, und zwar nicht schlecht.

Sie sind Opernliebhaber. Wie stehen Sie zu den Überlegungen, die Stuttgarter Oper für 300 Millionen Euro zu sanieren und zu erweitern?

Kretschmann: Das ist jetzt erst mal eine Aufgabe der Stadt. Da geht’s ja um städtebauliche Fragen. Natürlich sind wir als Miteigentümer irgendwann ebenfalls gefordert. Die Oper ist ein absolutes Kleinod des Landes. Sie ist auch die Stätte des Balletts, das fast so berühmt ist wie der bekannte Stern. Also ebenfalls ein „Premiumprodukt“. Das wollen wir pflegen. Aber die hohen Summen haben mich natürlich schon erschreckt. Das muss man sicher noch einhegen. Man muss nicht immer das Maximum haben, das Optimum reicht auch.

Das Interview führten Jan Sellner und Arnold Rieger.

Quelle:

Stuttgarter Nachrichten
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